Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm der Seelen

Der Turm der Seelen

Titel: Der Turm der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
Vom Netzwerk:
Sie einen Song über sie schreiben, Lol.»
    «Das wäre eine Idee», sagte er unsicher – obwohl er schon wusste, dass er es könnte. Solange er wusste, worüber er schrieb.
    «Den könnten wir dann immer in diesem Raum laufen lassen.» Sally Boswell lachte. Lol kam es so vor, als hätte sie weder für den Ritter noch für die Hopfenfrau besonders viel übrig.
    «Erscheint sie auch heute noch manchmal jemandem?»
    «Das kommt darauf an, wem man glauben will. In den sechziger Jahren soll sie jedenfalls häufig aufgetaucht sein.» Sie nickte in Richtung einer Schwarz-Weiß-Fotografie, die einen Mann mit breitem Schnurrbart zeigte. «Andererseits ist das kein Wunder – denn das war die Endzeit des Kaisers von Frome, in der Dunkelheit und Chaos herrschten.»
    Sie wollte fortfahren, aber Lol fand, dass Dunkelheit und Chaos noch ein bisschen warten konnten.
    Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, es zu fragen. Es passierte wie von selbst: «Hat sie immer ein Kleid an?»
    Sally Boswells Gesicht lag halb im Schatten. Aus dem vorderen Raum klang leise das Geräusch von Gitarrensaiten herüber, die jemand mitsamt dem Griffsteg angefasst hatte: Der legendäre Al Boswell verpackte seine Schöpfung.
    «Was für eine ungewöhnliche Frage», sagte sie kühl.

6   Voll toter Leute
    Ersticktem Schluchzen folgten die traditionellen Schlachtrufe des Generationenkonflikts.
    «Lass mich allein! Geh einfach weg! Was mit mir ist, hat nichts mit dir zu tun!»
    Die Wolken hatten sich inzwischen blassviolett verfärbt, und der Himmel sah durch das schmale Fenster in der Eingangstür aus wie das straffgespannte Fell einer vielbenutzten Trommel.
    Es war stickig in dem rechteckigen Flur mit der beigefarbengestrichenen Raufasertapete und den Wandleuchten mit den abblätternden Kupferschirmen. Merrily stand unter einem Druck in einem angeschlagenen Goldrahmen: Christus auf dem Ölberg. Ihr gegenüber befand sich eine cremeweiße Tür, an der eine kleine Keramikscheibe hing.
    Amys Zimmer.
    Die Tür war geschlossen, aber nicht gerade schalldicht. Merrily dachte, dass David Shelbone, der Beamte vom Denkmalsamt, wohl nicht damit rechnen konnte, sein eigenes Haus jemals auf der Liste der denkmalgeschützten Gebäude zu sehen – es sei denn als klassisches Beispiel für einen Siebziger-Jahre-Zweckbau. Wofür gaben die Shelbones ihr Geld aus? Für ihr adoptiertes Kind? Für lange Sprach- und Bildungsferien?
    «Amy. Bitte.»
    «Ich   … gehe   … nirgendwohin! Verstehst du? Mit mir ist alles in Ordnung! Und   … falls nicht, dann hat es nichts mit dir zu tun. Und mit ihr auch nicht. Sie soll einfach wieder gehen. Bitte. Das ist   … beschämend.»
    Bitte? Beschämend?
Das war eine verhältnismäßig zurückhaltende, beinahe höfliche Reaktion. In Extremsituationen benutzten die meisten Kinder und Jugendlichen auch eine extreme Sprache.
Du jämmerliche alte Kuh
war einmal Janes Eröffnungssatz gewesen, bevor es so richtig zur Sache ging.
    Hazel Shelbone murmelte etwas, das Merrily nicht mitbekam.
    «Nein!»,
schrie Amy.
«Du   … Wie kannst du behaupten, dass mit mir etwas nicht stimmt?»
    «Amy, glaubst du wirklich, dass du in der Verfassung bist, das zu beurteilen?»
    «Was weißt du schon? Was weißt du denn, wie ich mich fühle? Das kannst du nicht verstehen. Du bist ja nicht mal   …»
    Merrily hoffte, sie würde es nicht sagen. Das war wirklich kein geeigneter Moment dafür.
    «…   meine Mut   …»
    Dann war das unverwechselbare und immer von neuem bestürzende Geräusch einer Ohrfeige zu hören. Merrily schloss die Augen.
    Gähnende Stille. Jane hätte schon längst zu einer Tirade angesetzt, in der der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vorkam.
    Amy fing einfach nur wieder an zu weinen. Lange, tiefe Schluchzer, fast, als müsste sie würgen.
    Das war bestimmt nicht das erste Mal, dass sie die Du-bist-nicht-meine-Mutter-Karte ausgespielt hatte. Es musste irgend etwas anderes gegeben haben, das Hazel, die erfahrene Pflegemutter, der Vorratsspeicher mütterlicher Liebe, zu dieser Reaktion provoziert hatte.
Und wenn ich ihr in die Augen sehe   …
    In dem fensterlosen Flur herrschte eine unglaublich drückende Atmosphäre. Merrily fuhr mit dem Finger am inneren Rand ihres Priesterkragens entlang und machte ein paar Schritte in Richtung der Eingangstür. Sie fühlte sich wie ein Eindringling. Der Versuch, ein Gespräch herbeizuführen, war offensichtlich fehlgeschlagen. Sie warf einen Blick auf das sanfte, schimmernde

Weitere Kostenlose Bücher