Der Turm der Seelen
hingezogen zu fühlen. Ich hatte vor, ein Buch darüber zu schreiben. Schließlich habe ich aber Mr. Ash mein gesamtes Material für sein Buch überlassen. Inzwischen finde ich es nämlich besser, einen Ort wie dieses Museum zu betreiben, als ein Buch zu schreiben. Mehr interaktive Beteiligung, wie man heute so sagt. Und Al steht, wie die meisten Roma, dem geschriebenen Wort höchst misstrauisch gegenüber.»
«Mr. Ash scheint es auch kein Glück gebracht zu haben», sagte Lol zögernd. «Wenn man sein Ende bedenkt.»
Sie sah ihn nachdenklich an, als überlegte sie, wie viel sie ihm sagen sollte. «Nein», stimmte sie ihm schließlich zu. «Stewart war das letzte Opfer – das hoffen wir jedenfalls alle – einer unglücklichen Verkettung von Umständen in Knight’s Frome.» Sie nickte in Richtung des Durchgangs zum nächsten Raum. «Gehen Sie vor.»
Im dritten und kleinsten Raum hingen keine Hopfenranken. Es war auch der düsterste Raum, denn er hatte kein Fenster, und es brannte nur wenig Licht. Eine lange, schmale Platte wurde von einem Spot beleuchtet. Es war eine Gemälde in matten Öl-oder Acrylfarben auf einem Holzbrett. Ein kahles Hopfenfeld bei Nacht; die Pfostenalleen hoben sich schwarz gegen den mondüberglänzten Himmel ab, an manchen Stellen hingen einzelne, zerfledderte Ranken von den Gestellen herab. Auf halber Höhe der mittleren Reihe schwebte über dem nackten Boden eine Frau in einem langen, dunklen Kleid – einem Kleid, wie Sally es trug –, das vom Wind aufgebläht wurde. Die Bildunterschrift lautete: Die Hopfenfrau – eine Geistergeschichte.
Falls Sally bemerkt hatte, wie schweigsam Lol mit einem Mal geworden war, so sagte sie nichts dazu.
«Das ist der Todesengel der Hopfenbauern», sagte sie mit der Fröhlichkeit einer Ausstellungskuratorin.
Auf dem Gesicht der Frau auf dem Bild lag ein leichtes Lächeln. «Wer hat es gemalt?»
«Das war ich», sagte Sally.
«Es ist wirklich gut. Es ist, als ob …»
«Als ob ich sie tatsächlich gesehen hätte?» Sie lachte leise. «Vielleicht habe ich das ja. Manchmal denke ich, ich habe sie tatsächlich gesehen.»
Lol war froh über die dämmrige Beleuchtung. Das alles erschien ihm immer unwirklicher – wie die Fortsetzung eines Traums.
«Ich vermute, es gibt eine Geschichte dazu», sagte er.
«Sie war die Frau eines hier ansässigen Lords oder Ritters – vielleicht des Ritters, von dem Knight’s Frome ursprünglich seinen Namen hat. Und sie konnte ihm keinen Sohn gebären. Also hat er sie weggeschickt.»
«Wie man es so macht.»
«Wie man es
früher
offenbar so gemacht hat. Was nutzte es einem, vom König ein paar hundert Morgen gestohlenes Land geschenkt zu bekommen, wenn man kein Geschlecht begründen konnte? Auf jeden Fall hat er sie aus dem Haus gejagt. Hat ihr einbisschen Geld gegeben und sich dann mit seiner Mätresse niedergelassen. Aber die arme verschmähte Dame hat sich unten im Tal vor Gram verzehrt. Die ganze Nacht zog sie schmachtend durch die Felder und die Hopfenpflanzungen.»
«Ist das wirklich so gewesen?» Es klang wie der Stoff eines alten Folksongs.
«Als der Morgen anbrach, ein wundervoller Hochsommermorgen, an dem der Hopfen an den Ranken reifte», sagte sie, und ihre Stimme war härter geworden, «fanden sie die arme Frau an einem der Gerüste hängen.»
«Wann war das?»
«Das weiß ich nicht. Niemand weiß es. Es ist eine Legende. Ich vermute, wenn sie irgendwelche historischen Ursprünge hat, dann liegen sie kaum vor dem sechzehnten Jahrhundert, denn im größeren Stil wurde der Hopfenanbau hier erst ungefähr seit 1520 betrieben. Das Nachspiel bestand darin, dass der Hopfen des Ritters von der Nacht an, in der sie gestorben war, an den Ranken welkte und dass sein Feld viele Jahre lang keine Frucht mehr hervorbrachte. Und wer ihren Geist sieht, dessen Ernte wird ebenfalls welken … oder die von jemand anderem.»
Lol erinnerte sich an die vertrockneten alten Hopfenranken, die von dem galgenartigen Pfahlgestell heruntergehangen hatten. Er wollte nicht an die nackte Frau auf dem Hopfenfeld denken. Er stellte fest, dass er es am liebsten gehabt hätte, wenn sie ein Geist gewesen wäre. Geister waren nicht so kompliziert.
«Sie ist ein Symbol für die Verticillium-Welke geworden», sagte Sally. «Und davor für Spinnmilben, Blattläuse, Mehltau … einfach alles, was den Hopfen schädigt. Die Welke lässt ein Hopfenfeld tatsächlich für mehrere Jahre unfruchtbar werden. Vielleicht sollten
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