Der Turm der Seelen
seufzte. «Um ehrlich zu sein, ich weiß selbst noch nicht genau, wie ich mit dieser Situation umgehen soll. Ich komme nicht weiter, solange ich nicht mit ihr gesprochen habe, aber wenn ich hineingehe, gibt es vermutlich eine unschöne Szene. Das Letzte, was ich will, ist, sie noch weiter aufzuregen. Ich meine … vielleicht sollte ich damit anfangen, den Priesterkragen abzunehmen.»
Der Blick aus Mrs. Shelbones braunen Augen verhärtete sich. «Was soll das bringen? Sie sind Pfarrerin. Oder etwa nicht?»
Merrily starrte entmutigt auf den frischgemähten Rasen. Das Dämonische konnte man wahrnehmen wie einen ekelhaften Geruch – das galt manchmal sogar im wörtlichen Sinne. Doch der einzige, identifizierbare Geruch in diesem Haus war der eines Fußbodenreinigers gewesen. Und alles, was sie gespürt hatte, waren Verwirrung, Mutlosigkeit … und vielleicht noch etwas, das sie noch nicht benennen konnte. Aber das Böse war es auf keinen Fall gewesen.
Eigentlich bestand der einzige Hinweis, den sie auf Amys Besessenheit durch einen Geist oder den Teufel hatte, in Hazel Shelbones Erwähnung plötzlich aufgetretener hellseherischer Fähigkeiten.
«Sie haben gesagt, Amy wüsste Dinge. Dinge, die sie nicht wissen konnte.»
«Inzwischen tut es mir leid, dass ich das gesagt habe.» Sie warf einen nervösen Blick zurück aufs Haus, als ob gleich ein Stuhl durchs Fenster geschmettert werden könnte. «Ich kann es ja nicht beweisen.»
«Was für
Dinge
?»
«Das ist nicht der passende Augenblick, Mrs. Watkins.»
«Welche Art … Eindringling könnte von ihr Besitz ergriffen haben, was glauben Sie?»
«Ist es nicht
Ihre
Aufgabe, das herauszufinden? Ist es nicht das, was Sie eigentlich …»
«Helfen Sie mir», sagte Merrily.
Amys Mutter starrte über die niedrige Hecke auf die Straße. «Der Geist eines toten Menschen.»
Merrily verzog keine Miene. «Um wen geht es?»
Hinter dem Fenster links neben dem Eingang bewegte sich etwas. Das Kind stand dort, kaum zwei Meter von ihnen entfernt. Amy trug ein weißes, ärmelloses Oberteil. Ihr helles Haar hing strähnig bis auf ihre Schultern herab. Sie sah ungefähr aus wie zwölf. Sie wirkte steif und wächsern wie eine Puppe. Der Raum hinter ihr versank in Dunkelheit, wie der Hintergrund eines Porträts.
«Es ist jetzt immer so … kalt. Es ist eine Kälte, die man bis in die Knochen spürt.»
Merrily versuchte, Amys Blick auf sich zu ziehen, doch das Kind sah über sie hinweg.
Sie wandte sich um. Nichts. Auf der Straße hatte sich nichts verändert. Da war niemand; auch der gelbe Sportwagen fuhr gerade weg.
Es begann zu regnen – dicke, warme, träge Tropfen. Als Merrily wieder zum Bungalow zurückschaute, war das Mädchen verschwunden.
Hazel Shelbone ging zur Haustür. «Mein Mann wird gleich zu Hause sein. Es wäre mir lieber, wenn er nicht erfährt, dass Sie hier gewesen sind. Er steht auch so schon genug unter Druck.»
«Ich werde mir an anderer Stelle Rat holen», versprach Merrily. «Ich komme noch einmal wieder. Ich lasse Ihnen meine Telefonnummer da, aber ich rufe Sie morgen auf jeden Fall an, wenn das für Sie in Ordnung ist.»
«Beten Sie einfach für sie», sagte Mrs. Shelbone erschöpft. «Wenigstens das können Sie doch für Amy tun.»
Es donnerte noch nicht, doch es regnete schon in Strömen. Die Tropfen hämmerten lautstark auf die Motorhaube des alten Volvos. Beide Scheibenwischer brauchten dringend neue Wischblätter. Nach ein paar Kilometern musste Merrily an einer stillgelgten Tankstelle halten. Sie rauchte hastig eine Silk Cut und verräucherte dabei ihr Auto, weil sie bei dieser Sintflut das Fenster nicht öffnen konnte.
Nichts ging je glatt, nichts lief jemals so wie im Lehrbuch.
Im Auto, hinter den Scheiben, an denen der Regen hinabströmte, betete sie für Amy Shelbone. Sie betete dafür, dass Amy und ihre Mutter wieder miteinander sprechen konnten. Sie betete dafür, dass eine mögliche emotionale Blockade oder Störung enden würde. Sie betete dafür, dass die Wunde heilte, die in Amy aufgerissen worden war. Ganz gleich, um was es sich handelte, das Kind war davon überzeugt, dass es mit einer unverzeihlichen Lüge aufgewachsen war.
Wenn sie es genau bedachte, hätte sie, nachdem sie selbst nicht mit Amy arbeiten konnte, mit ihrer Mutter arbeiten müssen. Und wenn sie es noch genauer bedachte, hätten sie und Hazel Shelbone gemeinsam beten sollen, bevor sie aus der Kirche gegangen waren. Nur dass Merrily in
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