Der Turm der Seelen
Ausdrucksweise berühmt ist.» Sophie verengte unter ihrer makellosen Frisur die Augen. «Er drückt sich offen gestanden sogar noch gotteslästerlicher aus als Sie, Merrily.»
«Also ist er eine Art Quentin-Tarantino-Pfarrer?»
«Er ist sicherlich ein Priester, den viele Zweifel quälen. Oder er war es jedenfalls. Ich glaube, dass er mehr als ein Mal kurz davorwar, aus der Kirche auszutreten. Er scheint Probleme mit seiner Grundhaltung als Geistlicher zu haben. Er kam aus Gwen in diese Diözese, frischverheiratet. Seine Frau ist schwerbehindert. Im Pfarrhaus von Knight’s Frome mussten erhebliche Umbaumaßnahmen durchgeführt werden, bevor sie einziehen konnten.»
«Und wie wirkt sich das auf sein Amt aus?»
«Überhaupt nicht – allenfalls durch das Mitleid, das die Gemeindemitglieder zeigen. Nicht, dass Mrs. St. John sich gern bemitleiden ließe, damit Sie mich recht verstehen. Ich glaube, es ist wirklich hauptsächlich eine Frage der Diplomatie. Hochwürden St. John ist sprunghaft und neigt zu Eigenmächtigkeiten. Zum Beispiel hat er – und daran hat der Bischof sicher gedacht – es einmal abgelehnt, ein Mitglied aus einer hochangesehenen Familie zu verheiraten, die seit zweihundert Jahren in dem Ort ansässig ist. Er meinte, das Paar würde sich nicht lieben und nur eine Zweckehe schließen. Dann hat er ihnen noch gesagt, sie könnten ja genauso gut aufs Standesamt gehen.»
Merrily verdrehte die Augen. «Das hab ich auch schon oft genug sagen wollen.»
«Aber Sie haben es nicht getan, oder?»
«Aber nur, weil ich a) zu feige war und mich b) mein Pfarrgemeinderats-Onkel Ted nach so einer Aktion auf offener Flamme geröstet hätte.»
«Es geht einfach darum, maßvoll zu reagieren», sagte Sophie. «Hochwürden St. John bildet sich gern eine subjektive Meinung von den Leuten und handelt anschließend danach. Aus diesem Grund hält es der Bischof in diesem Fall vermutlich auch für angeraten, eine zweite Meinung zu hören. Abgesehen davon ist da noch diese Mail gekommen – die erste ernsthafte Anfrage, die über die neue Grenzfragen-Webseite gekommen ist.»
Sophie legte eine ausgedruckte E-Mail vor Merrily auf den Schreibtisch.
Sehr geehrte Hochwürden Watkins,
ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie meine Bitte um spirituelle Unterstützung nicht so ablehnend beurteilt haben, wie es unser Ortsgeistlicher getan hat. Ich gehe davon aus, dass Sie mit den Worten nicht falsch zitiert wurden, Sie würden jemandem, der echte spirituelle Hilfe braucht, jede Unterstützung geben, die Sie anbieten können. Ich erlaube mir daher als Christ, Sie darum zu bitten, die Situation hier wenigstens persönlich einzuschätzen, bevor meine Frau und ich an den Rand des Wahnsinns getrieben werden. Ich möchte nochmals betonen, dass es sich hier nicht um einen Scherz handelt.
Hochachtungsvoll
Gerard Stock
«Achten Sie darauf, wer noch auf dem Verteiler steht», sagte Sophie.
Merrily las:
CC: Bischof von Hereford, Kirche von England Pressestelle, The People, BBC Midlands Today, BBC Hereford und Worcester
«Das erklärt alles. Also ist es heute Abend im Fernsehen, oder?», sagte Merrily.
«Bei uns hat sich noch niemand gemeldet, aber ich vermute, das tun sie noch. Was soll ich ihnen sagen?»
«Sagen Sie, wir werden uns bei Mr. Stock melden. Was bleibt uns denn anderes übrig?»
«Soll ich ihm auch antworten?»
«Das mache ich selbst.»
«Ich beneide Sie wirklich nicht.» Sophie begann, das Teegeschirr auf ein Tablett zu räumen. «Ihr größtes Problem ist, dass Sie entscheiden müssen, was ein echter Fall ist und was …»
«… kompletter Scheiß», sagte Merrily, ohne zu lächeln.
«Ich hoffe nur, dass Sie sich nicht
zu
gut mit Hochwürden St. John verstehen.» Sophie hob das Tablett an und stellte es dann doch wieder auf den Schreibtisch. «Wenn ich das sagen darf … Sie wirken verändert.»
«Tue ich das?»
«Es geht mich ja nichts an, aber ist in Ihrem Privatleben etwas Besonderes passiert?»
«Ich habe eigentlich kein Privatleben, Sophie.» Merrily sah aus dem Fenster auf die Broad Street hinunter. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Himmel war noch bedeckt, eine Wolkenschicht türmte sich über die nächste. «Ehrlich gesagt, ist wirklich etwas Merkwürdiges passiert, aber davon will ich jetzt nicht auch noch anfangen.»
Sophie nickte und hob das Tablett wieder hoch. «Wann immer Sie darüber sprechen möchten – ich bin hier.»
«Danke.
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