Der Turm von Zanid
bis tief in die Nacht andauerte.
Am folgenden Morgen befühlte Fallon sein Stoppelkinn und betrachtete sich in Sainians Spiegel. Kein Erdenmensch, zumal, wenn er dem hellhäutigen europiden Typ angehörte, konnte sich mit einem sprießenden Bart als Krishnaner ausgeben. Der Bartwuchs der letzteren war in der Regel so kümmerlich, dass sie sich jedes Haar einzeln mit einer Pinzette auszupfen konnten.
Während Fallon noch über dieses Problem nachdachte, kam Sainian zur Tür herein, bewaffnet mit einem Teller, auf dem die Bestandteile eines einfachen krishnanischen Frühstücks lagen.
»Ich will Euch nicht so früh am Tage schon in Furcht und Schrecken versetzen«, begrüßte ihn der Philosoph. »Aber die Yeshtiten durchsuchen ihren Tempel nach zwei Ungläubigen, die gestern Abend, als Priester verkleidet, dem Ritus beigewohnt haben sollen. Der Zweck dieses Eindringens und die Identität der Eindringlinge sind nicht bekannt.
Doch da die Türsteher schwören, dass keine derartigen Personen nach dem Gottesdienst hinausgegangen sind, müssen sie sich noch immer hier im Gebäude befinden. Und in die Krypta können sie nicht hinabgestiegen sein, da die einzige Tür, die dort hineinführte, ständig bewacht wird. Ich habe natürlich keine Ahnung, wer diese Bösewichte sein könnten.«
»Wie sind sie dahinter gekommen?«
»Jemand hat die Umhänge der Priester des dritten Ranges gezählt und festgestellt, dass zwei mehr benutzt worden sind, als Priester da waren. Ehe nun dieses Geheimnis zu größeren Suchaktionen führt, glaube ich, ist es das beste, wenn Ihr und Meister Yulian euch von hier entfernt, ehe ihr Unheil über uns alle bringt.«
Fallon schauderte bei dem Gedanken an den blutigen Altar. »Wie lange ist es noch bis Mittag?«
»Ungefähr eine Stunde.«
»Bis dahin müssen wir noch warten.«
»Also wartet, aber rührt euch nicht vom Fleck. Ich gehe nun meiner gewohnten Arbeit nach und gebe Euch Bescheid, sobald die Wachablösung stattgefunden hat.«
Die nächste Stunde verbrachte Fallon in einsamer Angst.
Irgendwann steckte Sainian den Kopf zur Tür herein und sagte: »Die Wachen sind jetzt abgelöst worden!«
Fallon zog die Kapuze tief ins Gesicht, verließ in der schlurfenden Gangart der Yesht-Priester die Kammer und holte Fredro in Zarrashs Zimmer ab. Sie machten sich auf den Weg zum Treppenaufgang. Die Krypta wurde nach wie vor lediglich durch die Öllampen und den rötlich zuckenden Abglanz der Schmelzöfen erleuchtet. Hier drinnen konnte man nicht unterscheiden, ob es Tag oder Nacht war. Als Fredro die Inschrift sichtete, die er am Abend zuvor kopiert hatte, wollte er stehen bleiben, um seine Transkription zu Ende zu führen.
»Machen Sie, was Sie wollen!« zischte Fallon. »Ich hau jedenfalls hier ab.«
Er stieg die Treppe hinauf, hinter sich das mürrische Brummeln Fredros, der sich widerwillig von seiner Inschrift losgerissen hatte. Oben angekommen, warf Fallon einen letzten raschen Blick nach hinten und schlug dann mit der Faust gegen die Eisentür.
Nach wenigen Sekunden vernahm er ein Klirren, als der äußere Riegel zurückgeschoben wurde. Die Tür öffnete sich mit einem Quietschen. Vor ihm stand ein Angehöriger der Bürgerwehr in Uniform – aber nicht Girej. Dieser Krishnaner war ein Unbekannter.
17
D rei Sekunden lang starrten sie einander an. Dann riss der Wachtposten seine Hellebarde hoch, wandte gleichzeitig den Kopf und rief: »Ohe! Hierher! Ich glaube, das sind die Männer, nach denen …«
Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick trat ihm Fallon gekonnt in den Unterleib, eine Angriffsart, gegen die Krishnaner – trotz vieler sonstiger anatomischer Unterschiede – ebenso verwundbar sind wie Erdenmenschen. Als der Mann mit einem Schmerzschrei zusammenknickte, langte Fallon um die Türkante herum und zog den großen Schlüssel heraus. Dann zog er die Tür zu und schob mit Hilfe des Schlüssels den Riegel auf der anderen Seite vor. Jetzt konnte man sie von der Tempelseite aus nicht mehr öffnen, außer man brach sie auf oder fand einen zweiten Schlüssel.
»Was ist?« fragte Fredro hinter ihm.
Ohne eine Erklärung abzugeben, steckte Fallon den Schlüssel ein und ging die Treppe wieder hinunter. In solch entscheidenden Momenten wie diesem lief er immer zu Glanzform auf. Als sie den Fuß der Treppe erreichten, ertönte von oben ein lautes Dröhnen, indem Fäuste gegen die Tür schlugen.
Mit Hilfe der Ortskenntnis, die er am Abend zuvor bei dem Rundgang mit
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