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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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waren für die Feier zur Verfügung gestellt worden.

    Gegen acht Uhr brachen die meisten Gäste auf. Der offizielle Teil der Feier war vorüber. Frau Müller verstaute einige Rezepte, die Anne ihr hatte aufschreiben müssen, und versuchte ein Lächeln, das Christian wie die Bemühung um eine Korrektur vorkam. Adeling und der andere Kellner brachten Mützen und Mäntel, halfen den Frauen hinein. Man verabschiedete sich. Die Gäste, die noch blieben, nutzten die Unterbrechung, um sich ein wenig die Beine zu vertreten.
    Die Tischordnung war nun aufgehoben. Einige Stühle wurden an den Ofen gerückt. Die überzähligen Gedecke wurden abgeräumt, die Blumen – Menos Rosen ein roter Magnet darin – neben den Geschenketisch gestellt.
    Draußen half Christian seinem Vater und einigen Assistenzärzten Müllers Opel Kapitän anzuschieben und aus den Schneeverwehungen zu befreien. Der Professor selbst schob vorn, auf der Seite des Beifahrers. »Weniger Gas, Edeltraut, weniger Gas!« rief er, als die Räder durchdrehten.
    »Herr Professor, wir schieben, Herr Oberarzt, geben Sie Kommando!«
    »Früh gelernt, Herr Wernstein! Verantwortung delegieren!« rief Richard lachend zurück. »Ho-jupp! Eins – zwei – drei! Draußen ist er! Christian, paß auf, du stehst am Auspuff –«
    Müller sprang in den Wagen, der Opel schlingerte davon.
    »Ruhigen Dienst morgen, Manfred, tschüß, Hans, kommt gut nach Hause! Und schönen Dank noch einmal für alles.« Richard gab Weniger und Clarens die Hand, deren Frauen sich gerade von Anne verabschiedeten. Erstaunt stellten die beiden Männer fest, daß sie den gleichen Wintermantel aus dem VEB »Herrenmode« trugen.
    »Die gab’s am Dienstag, hat meine Frau mir mitgebracht!«
    »Meine auch. Fünf Stunden Schlangestehen, eigentlich sollte ich den erst zu Weihnachten bekommen, aber der alte war hinüber.« »Hans, wie kommt ihr nach Hause? Sollen wir euch mitnehmen?«
    Clarens nickte erfreut.
    Christian fror und ging hinein. Kurt Rohde, Meno und Niklas Tietze standen im Vestibül und hörten Herrn Adeling zu: »– von Kokoschka, ich versichere es Ihnen, ich irre mich nicht! Das Zimmermädchen, das die Herrschaften zu bedienen pflegte, hat es mir persönlich erzählt … Sie hat ein Trinkgeldbüchlein geführt, darin waren die Ausgaben der Herrschaften verzeichnet, und ich habe selbst die Beträge des Herrn Professor gesehen, sie gehörten zu den höchsten! Es ist eine der Staffeleien des Herrn Professor, jawohl, er hat sie dem Hause zum Andenken an viele hier verbrachte Nächte vermacht, und selbstverständlich halten wir sie in Ehren, jawohl.« Er hob den Kopf und wippte auf den Absätzen, das kreidigweiße Serviertuch über dem Arm, blickte gestreng nach einem der jüngeren Kellner, die noch ab- oder umräumten.
    »Interessant, interessant, was Sie uns da sagen.« Niklas hatte seine Shagpfeife hervorgezogen und stopfte sie mit Vanilletabak aus Menos Beutel. Streichhölzer flammten auf, auch Meno hatte sich eine Pfeife gestopft, nur rauchte er jetzt, wie Christian sah, nicht mehr die Kugelpfeife, sondern eine breit und kurz gebaute aus violettbraunem Holz. Kurt Rohde hatte sich einen seiner Sandblatt-Stumpen angezündet. »Und da haben Sie noch nie Schwierigkeiten bekommen? Ich meine, diese Staffelei ist doch sicherlich sehr wertvoll, und es gibt vielleicht Interessenten, die sie lieber anderswo sähen als hier bei Ihnen …«, sagte Kurt Rohde, die Zigarre anpaffend. Adeling hob die Brauen und warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. »Nein, bisher hatten wir noch keine Schwierigkeiten. Das Haus Felsenburg ist Ihnen für Ihre Diskretion sehr verbunden. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden…« Adeling flügelte davon.
    »Hast schön gespielt, mein Junge. Komm her, drück’ mich mal, wir haben uns ja noch gar nicht richtig begrüßt.« Christian umarmte den Großvater, der seinen Stumpen aus dem Mund genommen hatte und weit abhielt. Kurt Rohde war kleiner als sein Enkel, und Christian beugte sich etwas, bevor sein Großvater ihn auf die Stirn küßte. Er hatte die Stirn gerunzelt – nicht, weil es ihm unangenehm war, von seinem Großvater geküßt zu werden, sondern damit die Pickel in den Runzeln verschwanden. Dervertraute Duft des Großvaters: die trotz seiner neunundsechzig Jahre noch dichten und vollen, schlicht zurückgekämmten, nur an den Schläfen weißen Haare und die Haut über dem kurzgeschorenen Vollbart rochen nach Kölnischwasser, der grobe Stoff des Anzugs nach

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