Der Überläufer: Tweed 3
Alexis.
Tweed hielt den Brief in der Hand. Der Kreis schloß sich. Ein Briefträger in London wegen Newmans Post überfallen. Aber Newman hatte seine Post schon vor dem Überfall in Empfang genommen.
Tweed zweifelte nicht daran; dies war Alexis’ letzter Brief an ihren Mann. Er stand auf dem Hauptbahnhof von Helsinki, Laila neben sich, vor dem Schließfach, für das Newman einen Schlüssel in der Rezeption des
Hesperia
hinterlassen hatte.
Um diese Stunde war der große Bahnhof fast verlassen. Nichts ist deprimierender als ein leerer Bahnhof am Abend. Nur wenige Leute hielten sich in der höhlenartigen Halle auf. Er las den Brief nochmals, obwohl er seinen Inhalt mit verbundenen Augen hätte zitieren können.
»Dieser Hinweis auf ein Schiff, das um zehn Uhr dreißig abfährt«, bemerkte er. »Von welchem Hafen?«
»Vom Süd-Hafen«, sagte sie sofort.
»Und Sie wissen, welches Boot um zehn Uhr dreißig den SüdHafen verläßt?«
»Die ›Georg Ots‹.«
»Und wohin fährt sie, Laila?«
»Nach Tallinn.«
»Himmel! Wir müssen ihn aufhalten – es sei denn, er wäre heute morgen gefahren.«
»Kann er nicht – ich sah ihn in einem Taxi an mir vorbeifahren, da war es elf Uhr dreißig, eine Stunde nach Abfahrt der ›Georg Ots‹ …«
»Von welchem Pier?«
»Silja-Pier. Ich weiß, wo das ist.«
»Dann«, sagte Tweed, wieder ganz ruhig geworden, »müssen wir ihn morgen aufhalten. Wir müssen sehr früh beim Silja-Pier sein.«
Sie gingen zum Ausgang. Tweed warf einen raschen Blick auf die Leute, die noch auf dem Bahnhof waren, um zu prüfen, ob jemand Interesse an ihnen zeigte. Laila erriet offenbar seine Gedanken.
»Der grüne Saab, den Sie bemerkten und der uns von Vantaa bis hierher folgte, ist nirgends zu sehen. Ich ging hinaus, wie Sie gebeten hatten, während Sie das Schließfach öffneten. Der einzige Wagen, der draußen geparkt steht, ist ein schwarzer Saab – in anderer Ausführung. Es gibt hier eine Fabrik, die den finnischen Saab erzeugt, wie wir das nennen – aber es ist natürlich ein schwedisches Fabrikat. Sie importieren die Einzelteile und setzen sie hier zusammen.«
»Im Brief wird das Wort Archipel erwähnt. Interessierte Newman sich dafür?«
»Ja. Ich erzählte ihm über die beiden Archipel, den großen von Turku und den kleineren schwedischen.«
»Erwähnte er den Namen Adam Procane?«
»Mit keinem Wort.«
»Und Sie fanden keine Spur von ihm, nachdem Sie entdeckt hatten, daß er aus dem ›Hesperia‹ ausgezogen war?«
»Nein. Ich versuchte es in allen Hotels. Kein Engländer, dessen Name ähnlich klang wie Newman, hatte irgendwo ein Zimmer genommen. Wo, verdammt, kann er hingegangen sein?«
»Er versteckt sich irgendwo. Ich glaube, er will von der Bildfläche verschwinden, bis er morgen dieses Schiff bestiegen hat. Er kann überall sein.«
Durch den Haupteingang traten sie hinaus in die Nacht. Der Himmel war klar, im Mondlicht glitzerten unzählige Sterne, heller und größer, wie es Tweed schien, als er sie je in England gesehen hatte.
Er schaute nach links und sah den schwarzen Saab, von dem Laila erzählt hatte. Die Scheinwerfer leuchteten, der Motor lief.
Als sie vom Gehsteig auf die Fahrbahn traten, fuhr Poluschkin an.
Laut Anweisung hatte er Tweed zu überwachen; aber der Russe war ehrgeizig und eigensinnig. Er plante, Tweed in ähnlicher Weise durch Unfall sterben zu lassen, wie er es damals bei Alexis Bouvet durchgeführt hatte. Das würde ihm in Moskau Lob und auch Beförderung eintragen. Es geschah hier zwar auf finnischem Boden, aber wenn der Engländer ganz offensichtlich bei einem Unfall ums Leben kam – welche Schwierigkeiten konnte es da mit den finnischen Behörden geben? Wieder einmal ein Verkehrsrowdy …
Die Lichter des auf sie zurasenden Wagens waren riesengroß.
Tweeds erster Gedanke galt Laila. Sein rechter Arm schwang aus und fegte sie zurück auf den Gehsteig. Er selbst machte einen Schritt zurück, doch der Wagen streifte ihn an der Stirn. Das Bahnhofsgebäude stürzte über ihm zusammen.
Helles Tageslicht flutete durch ein Fenster, als Tweed die Augen öffnete. Er blinzelte. Jemand reichte ihm seine Brille. Er setzte sie auf, blinzelte wieder. Ein Mann in weißem Mantel sah ihn prüfend an.
Er lag in einem Bett. Sein Kopf war auf ein Kissen gebettet. Neben dem Mann im weißen Mantel stand Laila, ihre Miene ganz Besorgnis und Angst. Er rührte sich, stützte sich hoch und verspürte Kopfschmerz.
Er zwang sich in sitzende Position, Laila
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