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Der Überlebende: Roman (German Edition)

Der Überlebende: Roman (German Edition)

Titel: Der Überlebende: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst-Wilhelm Händler
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von dem aus man die Hütte sehen kann. In einem uralten Stoffrucksack mit Lederverschlüssen hatte ich belegte Brote in einer Blechschachtel und eine ebenfalls uralte, mit einem Fell umhüllte Feldflasche mitgenommen. Wir machten in der Sonne Brotzeit. Den Nachmittag verbrachten wir dösend in den Liegestühlen vor der Hütte. Deren mottenzerfressene Bespannung musste ich tackern, ich war mir nicht sicher, ob der Stoff unser Gewicht aushalten würde, aber er riss nicht. Am Abend arbeitetest du dann an dem kleinen Gobelin, während ich meine E-Mails checkte.
    Als ich die Tür zur Schlafkammer öffnete, lagst du auf dem Bauch und zündetest die Kerzen auf den Nachttischen an. Ich habe mich immer geweigert, Strom zur Hütte legen zu lassen. Weil der Generator so laut ist, schalte ich ihn nur an, um Strom für den Computer zu bekommen. Ich legte mich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Du hast dich im Bett hingesetzt, eine Bierflasche in der Hand. Zum ersten Mal seit deiner Genesung trankst du Alkohol.
    Es war ein Déjà-vu. Wir kannten uns seit einem Jahr, ich hatte gerade bei D’Wolf America angefangen, du hattest das Studium an der Kunstakademie beendet und versuchtest, dich in Berlin als Zeichenlehrerin durchzuschlagen. Wir trafen uns in Los Angeles, nahmen dort einen Mietwagen und machten eine Woche Urlaub an der kalifornischen Küste. Das erste Mal übernachteten wir in Carmel in einem Motel. Auf jedem der beiden Nachttische brannte eine Kerze, du erwartetest mich im Bett, du trankst Bier aus der Flasche.
    Damals in Carmel fragte ich dich schüchtern: Bist du froh, dass wir zusammen sind? Du lachtest: Was denkst du denn? Mehr zu mir selbst als an dich gerichtet, sagte ich: Bestimmt bist du in Berlin auf vielen Festen gewesen, während ich in Philadelphia war … Du unterbrachst mich: Ich bin brav gewesen!
    In der Hütte fragtest du mich, ob ich froh sei, dass wir zusammen seien. In der Hütte sagte ich: Was denkst du?
    Beide Male wurden wir gestört, damals in dem Motel und jetzt in der Hütte. In Carmel klopfte der Nachtportier rabiat an der Tür und wollte unbedingt einen von uns beiden sprechen. Der Schichtwechsel hatte nicht funktioniert, der Nachtportier dachte, wir hätten unser Zimmer noch nicht bezahlt, und ich musste die Quittung heraussuchen, die der Tagesportier ausgestellt hatte.
    In der Hütte war es auf einmal taghell – das durch die Ritzen zwischen und in den Fensterläden eindringende Licht aufgeblendeter Autoscheinwerfer leuchtete jede Einzelheit des Raums aus, dazu ertönte dröhnend ›Amazing Grace‹. Die spukhafte Erscheinung dauerte nur ein paar Sekunden, dann war es wieder dunkel und still wie vorher.
    Beide Male erschrakst du sehr. In Carmel trankst du die Bierflasche leer. In der Hütte sprangst du auf und nahmst im Essraum, ich konnte es vom Bett aus sehen, mehrere Tabletten ein. Ich hatte vergessen, für die Nacht noch einmal Wasser vom Brunnen zu holen, du spültest die Tabletten mit Fruchtsaft hinunter.
    Danach erzähltest du, es beunruhige dich, wie abhängig du von den Medikamenten geworden seiest. Nicht im Sinne einer Sucht. Aber ständig hättest du Angst, die Packungen seien leer oder du hättest eine verlegt. Als das Schlafzimmer so hell erleuchtet war, sei deine erste Befürchtung gewesen, der oder die Eindringlinge seien nur gekommen, um dir deine Tabletten wegzunehmen.
    Die unmittelbare Wirkung der neuen Medikation waren Schmerzen in Armen und Beinen gewesen. Professor Jangor hatte gesagt, das komme davon, dass deine Muskeln wuchsen. Zwar hattest du nicht den Eindruck, aber mit einem Mal konntest du deine Arme, deine Beine wieder ganz leicht bewegen, deine Hände und Füße waren bereit, dem geringsten, schwächsten Impuls zu folgen. Die Arme und Beine taten an einzelnen, genau bestimmbaren Punkten weh, als ob jemand daran ziehen würde.
    Professor Jangor hatte darauf bestanden, dich noch eine Zeitlang in der Klinik zu behalten, er wollte sichergehen, dass sich bei der neuen Medikation nicht doch noch Unverträglichkeiten einstellten. Während einem deiner nächtlichen Spaziergänge auf den Krankenhausfluren gerietst du ebenfalls auf die Baustelle, zu der ich mich einmal verirrt hatte. Die Scheiben des Panoramafensters waren nach wie vor nicht eingesetzt, die Befestigung der Plane hatte nicht gehalten, sie war in die Tiefe gefallen. Wie ich ein paar Tage vorher, stelltest du dich an den Rand und ließt den Blick schweifen. Im Nachthimmel über dir

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