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Der Überlebende: Roman (German Edition)

Der Überlebende: Roman (German Edition)

Titel: Der Überlebende: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst-Wilhelm Händler
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um die Hütte herum verstreut, die blaue Farbe an der Eingangstür und den Fensterläden war abgescheuert. An mehreren Stellen hatte Hagel die Schindeln auf dem Dach zerstört und die morsche Unterkonstruktion durchschlagen. Die Sonne überlegte und entschloss sich, das Innere nicht mit Lichtmasse aufzufüllen, sondern säuberlich getrennte, fein dosierte Strahlen zu senden. Es war, als ob Fäden gespannt wären zwischen den Löchern im Dach und dem Boden – ich schreckte zurück wie vor einer Sperre.
    Im Abstellraum lagerte eine genügende Anzahl von Reserveschindeln, unser Nachbar Hermann reparierte das Dach noch am selben Tag. Er maß die zu ersetzenden Deckenbretter aus, schnitt zu Hause neue Bretter mit der Kreissäge und setzte sie sofort ein. Dabei fragte er uns, ob wir wüssten, woher das Wort Nachbar komme. Er erklärte es uns: Der Nachbar ist der nächste Bauer.
    Du hast den kleinen Webstuhl auf dem Esstisch aufgebaut und dich auf die Eckbank gesetzt, mit dem Rücken zum Fenster. Nur im Urlaub, in der Hütte, durfte man dir zusehen, während du webtest. Auf den anderen Teil der Eckbank hattest du den großen, noch vor der Krankheit fertiggestellten Gobelin mit den vier Ansichten gelegt, der den Genius loci abbilden sollte: Links oben die Hütte auf dem Fundament aus Bruchsteinen, mit den blauen Fensterläden und der blauen Tür, ein Ast des blühenden Kastanienbaums berührte die Dachrinne. Rechts oben die Wegkehre in der Wiese oberhalb der Hütte, links unten mein Arbeitszimmer in der Hütte mit der kahlen, in der Ecke des Raums befestigten Schreibplatte und leeren Bücherborden. In Wirklichkeit lagen darauf die Bücher, die ich zum Lesen mitgenommen hatte, auf der Schreibplatte waren aus dem Internet heruntergeladene und aus Fachzeitschriften herauskopierte Papers verstreut, auf dem im Bild ebenfalls leeren Stuhl neben der Platte hatte ich mein Notebook aufgeklappt. Rechts unten glänzte der Teich unterhalb der Hütte in der Sonne.
    Die meiste Zeit hast du an einem ganz kleinen Portrait von mir gearbeitet. Ich sah älter aus: Meine Gesichtszüge waren eingefrorene Brandungswellen mit Furchen, Schrunden, Wirbeln und Schaum. Meine Haut ist ziemlich glatt, aber ich habe starke Falten um den Mund und zwischen den Augenbrauen. Die Falten zwischen den Augen suggerieren eine Kraft, die den oberen Teil meines Schädels zusammenpresst, meine Augen näher zueinander rücken will. Die Falten um die Mundwinkel machen meine Backen größer, sie legen den Gedanken nahe, etwas ziehe den unteren Teil meines Gesichts auseinander. Ich sah jünger aus: Die dicken schwarzen Bartstoppeln ließen meinen Mund voller erscheinen, als er tatsächlich ist. Das Braun meiner Augen milderte den Gegensatz zwischen den weißen und schwarzen Haaren und zwischen den weißen und schwarzen Stoppeln ab. Ich sah zugleich jünger und älter aus als sechzig – also war ich sechzig.
    Du hast immer erklärt, die Gobelins seien Ausweitungen deines Nervensystems. Solange du in der Lage seist, deine Hände zu benutzen, könntest du nicht nicht weben. Nur mit dem Weben könntest du Distanz zur Welt gewinnen. Ich habe überlegt, ob ich dich bitten sollte, das nicht mehr zu sagen, aber ich ließ es. Du hast das jedes Mal in einem sehr nachdenklichen Ton geäußert, der die Welt, von der du dich distanziertest, sichtlich nicht beleidigen wollte.
    In der Hütte, als ich diese und mein Gesicht auf den Gobelins betrachtete, machtest du mir ein Geständnis. Du hättest niemals an das geglaubt, was du erzählt hattest. Du wolltest dich nur interessant machen. Die Wahrheit sei, du hättest auch zeichnen oder malen können, wie du es gelernt hattest, aber das taten ja viele, also fingst du mit den Gobelins an, weil das etwas Besonderes war. Aber dann – nachdem du das Weben beherrschtest – sei es für dich nicht mehr vorstellbar gewesen, etwas anderes zu tun. Ohne dass du einen Grund dafür angeben konntest. Du hättest so geredet, um die Leute zu beeindrucken. Du hättest kein schlechtes Gewissen dabei gehabt. Die Leute hatten es geglaubt, das konnte ich dir bestätigen.
    Ich habe die Gelegenheit benutzt, um herauszufinden, warum es keine Selbstportraits von dir gab. Du hättest es versucht, aber sie seien nicht gelungen. Die Selbstportraits seien immer so verwaschen gewesen. Du hättest die Versuche vernichtet.
    Am Vormittag waren wir spazieren gegangen, den Weg, der auf den gegenüberliegenden Hügel führt. Wir waren auf den Hochstand geklettert,

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