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Der Überlebende: Roman (German Edition)

Der Überlebende: Roman (German Edition)

Titel: Der Überlebende: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst-Wilhelm Händler
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unbedingt das Konzert besuchen. Ich sollte dir Cathleen Nebe vorstellen, du wolltest sie kennenlernen.
    Während ich am Steuer saß, hörte ich das Geräusch, mit dem die Schlittschuhe vieler Menschen über Eis glitten. Mein Gesicht war kühl, meine linke Hand glühte. Das ist meine letzte Erinnerung vor dem Zusammenstoß mit dem Cabrio.

    Ich bin daran gewöhnt, dass sich der Geräuschpegel um mich herum verändert, obwohl die Schallquellen konstant bleiben. Wenn mich Mitarbeiter ansprechen, kann ich sie einmal kaum hören, ein andermal kommt es mir so vor, als brüllten sie mich an. Bisweilen bleibt mir nichts anderes übrig, als mein Gegenüber zu bitten, denselben Satz mehrfach zu wiederholen, weil ich nur Bruchstücke höre und nicht in der Lage bin, sie so zusammenzusetzen, dass es eine verständliche Botschaft ergibt.
    Als ich ein Kleinkind war, dachte meine Mutter, ich sei taub. Sie stellte sich hinter mich und machte laute Geräusche, aber ich reagierte nicht. Sie schickte mich zu einem Hörtest, der ergab, dass ich nicht taub war, damit hatte sie das Problem gelöst. Später unterzog ich mich noch einmal einem Test, mein Gehör war weit besser als das der Durchschnittsmenschen, ich konnte sogar einige Frequenzen hören, die sonst nur von Tieren wahrgenommen werden. Ich schilderte dem Arzt meine Probleme, er sagte, das habe etwas mit der Aufmerksamkeitssteuerung für Geräusche im Gehirn zu tun, mehr wusste er nicht. Ich konnte damit umgehen, bis zu dem Zusammenstoß.
    Um bei einer Besprechung oder einem Telefonat einen Satz vollständig zu verstehen, musste ich mich jetzt so stark auf diesen konzentrieren, dass die folgenden Sätze mit Sicherheit verloren waren. Ich informierte mich aus Besprechungsprotokollen und ließ mir zu Themen, die ich sonst mündlich abgehandelt hatte, Mails schreiben. Ich gab vor, seit dem Zusammenstoß würde ich von Kopfweh heimgesucht, das sich bei Gesprächen verstärke. Peter bot mir seine Kopfschmerztabletten an, obwohl er wusste, ich nehme keine Medikamente. Alle anderen Geräusche außer der menschlichen Sprache hörte ich viel intensiver. Meine Nächte bestanden aus deinen Atemzügen, Maren. Wir schliefen jetzt bei offenem Fenster, ich hörte das Bellen des Hundes, der zu dem großen Haus am Anfang unserer Straße gehört, und das Feilen der Zikaden von dort, wo unsere Straße in den Wald mündet.
    Du hattest mir erzählt, unsere Nachbarn hätten eine kleine Tochter, ich habe sie nie gesehen. Sie sei etwa drei oder vier Jahre alt und leide unter Schlafstörungen, die die Eltern dadurch bekämpften oder denen sie nachgaben, indem sie sie mitten in der Nacht ein Bad nehmen ließen. Das Badezimmer lag unserem Schlafzimmer direkt gegenüber, das Fenster war gekippt, und ich hörte, wie das Mädchen in der Badewanne plantschte und spritzte. Merkwürdigerweise waren nie andere Laute zu vernehmen, das Mädchen plapperte nicht, es juchzte nicht, auch die Mutter oder der Vater – ein Elternteil musste doch im Bad auf das Kind aufpassen – blieb ebenfalls stumm.
    Über die Tochter der Nachbarn haben wir geredet. Über unsere Tochter niemals.
    Du schliefst, aber du hörtest das Mädchen trotzdem jedes Mal. Du drehtest dich um und ließt ein Ah oder ein Ja vernehmen. Das Geräusch, mit dem das Wasser in die Wanne floss, ertönte gewöhnlich nur kurz, man füllte die Badewanne nicht einmal zur Hälfte. Als das Geräusch einmal länger hörbar war und die Wanne volllief, hobst du, auf dem Rücken liegend, beide Arme. Ich dachte, du seist aufgewacht, aber deine Augen blieben geschlossen. Du wälztest dich auf die Seite, legtest dich auf den Bauch, du strecktest die Arme vor und bewegtest sie, als ob du unter Wasser gegen eine kräftige Strömung schwimmen würdest.

    Wo war Cathleen Nebe? Sie hatte angekündigt, nach der Vorführung der S-bots werde sie trainieren. Ich steuerte der Reihe nach die Kameras im Fitnessbereich an, jedes Mal blieb der Bildschirm dunkel. Wenn sich niemand in den Räumen aufhielt, schaltete sich die Beleuchtung automatisch aus. Freitagnachmittag nutzten die Mitarbeiter den Fitnessbereich selten, sie hatten es eilig, nach Hause zu kommen.
    Wir hatten Cathleen Nebe das Experiment schon eine Woche vor der Feier der hundertmillionsten POWERWOLF W-8 2000 vorgeführt. Bis zur Feier wollte sie Urlaub in Europa machen.
    Bei der Vorführung ließ ich jede der verschiedenen Entwicklungslinien für den Greifarm von einem anderen Mitarbeiter erläutern, ich wollte

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