Der Überlebende: Roman (German Edition)
Die farblosen Flüssigkeiten, die in dich hineinlaufen, die grauen und schwarzen Sensoren, mit denen du an die Überwachungsgeräte angeschlossen bist, die durchsichtige Atemmaske, die Sauerstoff in dich hineinpumpt. Alles Camouflage! Ständig übst du unter diesem Raster, das keins ist, nur ein Auftrag von farblosen Farbtupfen –
Wenn sich Gott für uns so wenig interessiert, wie Pfarrer Grenzfurtner es predigt, braucht man keinen Teufel mehr.
Peter, während ich an deinem Krankenbett Fachzeitschriften lese, verfolgt mich der Gedanke: Will ich durch böse Taten eindeutig schuldig werden, kein Halbschuldiger mehr sein? Das Böse, das keinen Platz mehr hat, muss sich doch irgendwo sammeln. Nicht bei den Untergebenen, nicht bei den Vorgesetzten, nicht bei den Robotern. Einer muss es doch zum Vorschein bringen! Alle müssen die Rückseite des gewienerten Fortschritts ertragen. Die teuflische Seite, die Finsternis, die Schatten, sie müssen doch irgendwo greifbar werden! Das tun sie in mir. Ich bin der böse Geist meiner Untergebenen, meiner Vorgesetzten. Der Roboter. Ich gebe dem Bösen meinen Körper, es nimmt Platz in meiner Person. Dafür kann der Fortschritt unbehelligt und ohne Schuldgefühle Riesenschritte machen. Die Wahrheit des Bösen, das bin ich.
Keiner weiß, was geschehen ist. Warum meine Frau hier lag, warum du hier liegst, Peter. Meine Taten, sie bewegen sich auf mich zu und dann wieder weg von mir. Mein Inneres hat schon lange niemand mehr gesehen, zum Glück. Er, der alles sieht, erträgt er diese Verkommenheit, wenn er in mich hineinblickt? Ich poliere meine Oberfläche wie verrückt, um nicht Anstoß zu erregen, aber drinnen! Drinnen herrscht Verwahrlosung! Es ist ja nicht wahr, dass ich keine Gefühle habe. Im Lauf der Jahre sind meine Gefühle von Monat zu Monat bösartiger geworden. Es gibt da einen stummen Kampf zwischen den Gefühlen, denjenigen, die schon ganz bösartig, und denjenigen, die noch nicht so bösartig sind. In mir hat es nie etwas Tadelloses gegeben, nur Schandflecke. Mir wird übel, wenn ich in mich blicke. Die wenigen Gefühle, die nicht völlig verderbt sind, stehen zutraulich und furchtsam beieinander und träumen in die Luft hinein –
Eifervoll habe ich ihn, der alles sieht, gefragt, ob ich mich selbst richten soll. Er hat mir keine Antwort gegeben. Er hätte doch sagen können: Genug! Es liegt in deinen Händen, Peter. Wenn du aufwachst – ich zittere vor dem Tag. Wenn du aufwachst, Peter, höre ich doch ein Genug . – Ich möchte, dass du stark bist, Peter. – Dass du aufwachst.
Vor einiger Zeit hatte ich den Vortrag einer Dozentin der Harvard Business School gehört, die seit Jahren einen Kurs ›The Moral Leader‹ gibt. Die Teilnehmer lesen Romane und diskutieren darüber. Sie müssen nicht vorsichtig sein, die behandelten Bücher haben nie etwas mit Wirtschaft zu tun, keiner muss sich zurückhalten, um nicht etwa einen Standpunkt zu vertreten, den die Firma nicht so gern hätte. Ziel des Kurses ist nicht, den Teilnehmern etwas beizubringen. Sie sollen ethische Probleme gemeinsam erörtern und die Literatur als Ressource für die verschiedenen Blickwinkel gebrauchen, aus denen man ethische Fragen betrachten kann.
Nach meinem ersten Besuch bei Peter im Krankenhaus fuhr ich zu einer Buchhandlung und ließ mir von der Buchhändlerin ein Dutzend deutsche Romane vom Anfang des letzten Jahrhunderts geben.
Ich wollte es machen wie du, Maren: nur Klassiker lesen.
Peter hatte einen Riss an der Schädelbasis und ein Blutgerinnsel im Gehirn. Schädelbasisbrüche, erläuterte man mir, gibt es bei Amateurboxern nie und bei Profiboxern äußerst selten. Seine Kopfschmerzen waren ein Warnzeichen gewesen. Wie sich herausstellte, lag bei Peter eine Anomalie in der Formation der Schädelknochen vor. Er hätte überhaupt niemals boxen dürfen, nun hatte er auch noch auf den Kopfschutz verzichtet. Schon lange hatte er nicht mehr gegen stärkere Gegner geboxt, die schwächeren Gegner hatte er sich mit seiner guten Technik vom Leibe gehalten. Cornelius Purps stand unter Schock, er verkündete, er wolle nie wieder in den Ring steigen. Es war wirklich nicht seine Schuld. Er boxte dann doch wieder, für den nächsten Kampf suchte er sich einen sehr starken und sehr beweglichen Gegner aus, der ihn regelrecht verprügelte.
Peter wurde sofort operiert und anschließend in ein künstliches Koma versetzt. Die Ärzte erklärten, sie seien nicht sicher, ob er aufwachen werde, wenn sie
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