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Der Überlebende: Roman (German Edition)

Der Überlebende: Roman (German Edition)

Titel: Der Überlebende: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst-Wilhelm Händler
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oder das ein exotisches Schicksal durchleidet? Habt ihr euch nicht alle ausgemalt, wie ich, wenigstens ein einziges Mal, totenblass werde, zu zittern beginne, aufspringe und euch mit wilden Bewegungen wegstoße? Jetzt gehe ich hin und ertränke mich ohne Ankündigung und Erklärung, lasse mich gottverlassen von einem flachen, zahmen Meer verschlucken. Ein Ratespiel für die Zurückbleibenden: Töte ich mich ohne Mitleid mit den anderen, oder gibt es zu viel davon in mir? Ohne Mitleid mit mir selbst, oder bringe ich gerade genug davon auf?
    In dem Augenblick, als der Nachtportier mit einem dringenden Fernschreiben auf den Parkplatz lief, spaltete sich die wirkliche Weltlinie von der vorgestellten ab. Weiß heute noch jemand, was ein Fernschreiber ist? Der Nachtportier kam der ausdrücklichen Anweisung, mir das Fernschreiben sofort zu überreichen, entflammt nach, mangels anderer Erlebnisse zählte der Auftrag wohl als ein solches. Der Chief Plant Engineer des Werks in Philadelphia war bei einem Unfall ums Leben gekommen. Obwohl Deutscher, gehörte er einem Verein an, dessen Mitglieder den Amerikanischen Bürgerkrieg nachspielen. Das jeweilige Reenactment des Bürgerkriegs dauert gleichfalls fünf Jahre, sind die Konföderierten geschlagen, beginnt der Krieg von vorn. Die Offiziere dirigieren die Mannschaften nach Befehlen aus Original-Drillbüchern und gemäß historischen Berichten. Der Werksleiter war bei der Kavallerie gewesen, auf diese Weise konnte er reiten, ohne sich selbst ein Pferd zu halten. Er hatte mir einmal erklärt, dass man den Gegner nicht hasse, weil man ihn doch zum Spielen brauche. Er starb in der Schlacht von Cold Harbour, bei der hundertsiebzigtausend Mann gegeneinander antraten und fünfzehntausend fielen. Sein Pferd scheute, als die ersten Kanonen abgefeuert wurden, es warf ihn ab, er prallte auf einen Baumstumpf und brach sich das Rückgrat. Der stellvertretende Werksleiter war gerade zu GE gewechselt, ich sollte dem Chef von D’Wolf America sofort Vorschläge machen, wen ich für geeignet hielt und wer bereit wäre, in einer Nacht- und Nebelaktion die Stelle anzutreten.
    Der Nachtportier hatte keine Ahnung, wie der Fernschreiber zu bedienen war. Ich setzte mich davor, tippte das Schreiben selbst ein, in dem ich meine beiden Kandidaten benannte, und sandte es ab.
    Als ich meinen nächtlichen Job erledigt hatte, saß Greta auf Peters Bett, vor ihr seine geöffnete Reisetasche, sie hatte Fotografien in der Hand, die sie aufmerksam betrachtete. Die Fotos zeigten Peter als Kleinkind, mit seiner Mutter, mit Pfarrer Grenzfurtner.
    Erst nachdem ich minutenlang neben ihr gestanden hatte, fiel mir auf, dass Greta Peters Sachen angezogen hatte. Ich fragte sie, wo Peter sei, sie gab keine Auskunft. Stumm ging sie ins Bad, ich folgte ihr, vor dem Spiegel putzte sie sich mit Peters Zahnbürste die Zähne und trocknete sich mit seinem Handtuch ab. Dann griff sie nach Peters Schlafanzug und hielt inne. Es war das erste Mal, dass sie mir in die Augen blickte. Gehorsam verließ ich das Bad.
    Sonst brauchte sie sehr lange, bis sie für die Nacht fertig war – bei Peter war das eine Angelegenheit von Sekunden. Gerade hatte ich mich auf mein Bett gesetzt, als sie auch schon wieder das Zimmer betrat, in Peters Schlafanzug. Sie legte sich in sein Bett, ich fragte sie erneut nach Peter, sie drehte das Gesicht zur Wand.
    Der Gedanke überfiel mich, Greta könne Peter etwas getan haben. Ich eilte zum Balkon hin, die Tatsache, dass die Balkontür klemmte, beruhigte mich. Ich musste Kraft aufwenden, um sie zu öffnen. Die Stühle auf dem Balkon waren leer, die Lampen über dem Hoteleingang und an den Brüstungen der Terrasse spendeten nur schwaches Licht. Minutenlang blieb ich stehen, damit sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. In dem Bereich unter dem Balkon konnte ich nichts Verdächtiges entdecken.
    Es ist nicht wahr, dass ich Peter angestrahlt hätte, während er sich mit dem Würfel in seinem Kopf abmühte!
    Als ich ins Zimmer zurückkehrte, hörte ich Gretas regelmäßige Atemzüge. Sie war eingeschlafen, oder sie wollte, dass ich das glauben sollte.
    Während ich unschlüssig vor den Betten der Kinder stand, hörte ich ein Kratzen an der Tür. Ich dachte, der Nachtportier traue sich vielleicht nicht, zu der fortgeschrittenen Stunde laut anzuklopfen. Aber der verweinte Peter stand davor. Er atmete heftig und zitterte. Ich fragte ihn leise, was passiert sei, ich wollte Greta nicht aufwecken. Er gab

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