Der Überlebende: Roman (German Edition)
sie mit dem Kopf gegen einen Stein geprallt und ohnmächtig geworden war. Außer Atem langten wir bei dem Denkmal an, wir rutschten den Abhang hinunter und gingen bis zu den Knien in das flache Meer, weit und breit keine Spur von ihr.
Ich wollte ihr Verschwinden an der Rezeption melden und die Polizei verständigen, um eine Suchaktion zu starten. Aber auf der Hotelterrasse regnete es Konfetti auf uns herab. Unser Zimmer mit Meerblick im zweiten Stock lag genau über dem Hoteleingang, das Konfetti bestand aus Schnipseln von Briefpapier des Hotels, mit Ansichten des Pompeji-Würfels und möglicher anderer Würfel. Peter spurtete in den zweiten Stock, aber er kam gleich wieder mit der Botschaft zurück, dass die Zimmertür und die Balkontür offen standen, das Zimmer jedoch leer war.
Es hatte Greta keine Schwierigkeiten bereitet, hinter dem Denkmal die Böschung hinabzusteigen und sich zunächst im Schutz der Böschung und danach in demjenigen des Wäldchens zum Hotel zurückzubegeben. Auf dem Balkon vor unserem Zimmer hatte sie dann auf uns gewartet.
Ich blieb mit Peter auf der Hotelterrasse sitzen, bis es dämmerte. An dem lauen Abend waren weniger Tische belegt als erwartet, ausschließlich mit Ehepaaren, die ihre Kinder früh ins Bett geschickt hatten. Niemand redete, alle tauschten geschmerzte, gekränkte Blicke. Die einzigen Worte, die fielen, waren »Guten Abend! Guten Abend!«, wenn ein Ehepaar, die Zustimmung der Zurückbleibenden erheischend, sein Schweigen von der Hotelterrasse auf das Zimmer verlagerte.
Dort schalteten die Ehepaare das Licht an und ließen es brennen. Die beiden Arten von Licht passten nicht zusammen, das ungerührte stählerne Grau des immer noch hellen Himmels und das sich schamlos anbiedernde heimelige Gelb in den Fenstern. Aus einem Schornstein des Hotels stieg loser schwärzlicher Rauch auf, die ebenfalls schwärzlichen Wolkenfetzen am Himmel lehnten es jedoch ab, sich mit dem Rauch zu vereinigen.
Als ich die Zimmertür geräuschlos hinter mir schloss, ging die Badezimmertür ebenso lautlos einen Spalt auf, und ein Lichtkeil fiel aus dem Bad in das Zimmer. Wasser tropfte in die gefüllte Badewanne.
Peter und ich legten uns auf unsere Betten. Wir stellten uns tot wie jemand, der aus dem Schlaf hochfährt, weil er einen bedrohlichen Laut gehört hat, und sich nun nicht rührt, betend, kein einziger Muskel möge zucken und die Gefahr vorübergehen.
In völliger Stille, ein Luftzug musste sie bewegt haben, ging die Badezimmertür weiter auf. An der Innenseite war ein mannshoher Spiegel angebracht, in dem Greta sich für mich spiegelte. Sie saß in der Badewanne, die Arme um die angezogenen Beine, der Kopf zwischen den Knien, die Haare zwischen Oberschenkel und Brust geklemmt.
Auf dem Boden neben der Badewanne eine Schulklasse aus Papier. Greta hatte auf jedes Blatt einen Jungen oder ein Mädchen gezeichnet und durch einen Schnitt in der unteren Hälfte ein gefaltetes leeres Blatt gesteckt, so dass die Zeichnungen aufrecht standen. Über jedem Jungen und Mädchen, ich erkannte nur Peter, schwebte eine Gedankenblase mit einer Würfelansicht.
Nicht das Meer, wie zunächst befürchtet, hatte Greta verschluckt, auch nicht die Dunkelheit – der Lichtkeil aus dem Bad stellte ihr ein Alibi aus. Etwas anderes hatte sich Gretas bemächtigt: ungeheuerliche Möglichkeiten, die ihr ihre Nerven nahelegten und die ihr Kopf jetzt ausbrütete. Ich hatte sie in ihr Inneres hineingetrieben, das sie mit weit offenen Lidern beäugte und dem sie gebannt lauschte.
Damals war das Universum still, das Nichts schrie mich noch nicht an. Ich sehe mich, wie ich ohne das allerleiseste Geräusch das Zimmer verlasse. Wie ich auf dem unbeleuchteten Parkplatz den Wagen sofort finde und den Regenmantel herausnehme. Wie ich im Dunkeln forsch auf dem Weg zum Meer ausschreite, den Peter und ich nahmen, nachdem wir Greta dort, wo das Meer die Landzunge umspülte, gesucht hatten. Wie ich mich auf der Geröllhalde bücke und, ohne hinzusehen, alle Taschen meines Mantels mit Steinen fülle. Wie ich dann ins Meer gehe, keiner weiß, warum, nicht du, Maren, nicht Peter, niemand in der Firma. Ich hinterlasse keinen Brief, nicht einmal einen Zettel. Nur Greta wird eine Erklärung haben. Aber ist es die richtige?
Habt ihr euch nicht gewünscht, du, Maren, und alle anderen, dass ich ein einziges Mal auf unvorhersehbare Weise exaltiert reagiere, mit einer entsetzten, entsetzlichen Anteilnahme für etwas oder jemanden, der
Weitere Kostenlose Bücher