Der Überlebende: Roman (German Edition)

auf der hinteren Fläche. Du setzt die Drei auf die linke Fläche, in korrekter Lage zur Sechs, das obere Ende der Drei an die vordere Dreierzeile der Sechs. Die Vier liegt an der Schmalseite der Sechs, also muss die Vier rechts sein, fehlt nur noch die Eins, sie muss unten liegen.
    Der Würfel ist aufgebaut!!!!
    Du drehst ihn so, dass die Eins oben liegt, vorn links ist die Drei, vorn rechts die Zwei, und du zeigst auf die entsprechende Würfelansicht auf dem Blatt mit den vorgeschlagenen Lösungen.

    Ich sah ihr an, dass sie gleich auseinanderspringen würde vor Hass auf mich, der ich sie so süßlich eingekesselt hatte. Ich spiegelte mich in ihren Augen: ein intellektueller Vampir, der sich von hirnverbrannten geistigen Freiübungen nährte. Was war die effektivste Form eines Wutausbruchs? Während sie diesen plante, beäugte sie sich selbst, als ob sie immer noch den Würfel aufbaute. Variante eins: von einem Moment zum anderen den Verstand verlieren. Dableiben, in dem Holzstuhl auf der Sommerwiese – neben Peter –, und trotzdem endgültig verschwinden. Sie selbst als leere Stelle, die sie hinterlassen würde. Sie wählte Variante zwei: Zusammenreißen und: »Gib mir Papier, gib mir Bleistift. Nicht für den Würfel.«
    An der Rezeption ließ ich mir das Briefpapier des Hotels geben. Während du webtest, Maren, zeichnete Greta oft. Du hast sie angeleitet, aber das wäre nutzlos gewesen, wenn sie kein Talent gehabt hätte. Auf einer Zeichnung habe ich eine große, undurchsichtige Sonnenbrille mit breiten schwarzen Bügeln auf und trage ein weites weißes Hemd. Nie habe ich eine so große Sonnenbrille besessen. Ich habe einen langen weißen Bart und lese mit der schwarzen Brille, ich hatte nie einen Bart. Ich habe die Kapuze eines Anoraks hochgeschlagen und eine Maske unter den Augen, die die Nasenlöcher und den Mund frei lässt, wie ein Eskimo. Greta zeichnete schnell und warf die Zeichnungen achtlos weg, ich sammelte sie auf. Ich habe Anzug und Krawatte an und die Augen geschlossen, der Anzug ist dunkel schraffiert, aber der Rand des Revers weiß gelassen. Die letzte Zeichnung, für die sie am längsten brauchte, zeigt eine große weiße Gestalt von vorn, die die Arme seitlich wegstreckt und die Beine spreizt, der Rumpf ist verdeckt von einer schwarzen Figur mit einem großen Kopf, aber ganz dünnen Armen und Beinen, wahrscheinlich von hinten gesehen.

    Ich konstruierte. Immer. Niemals tat ich etwas anderes. Auch wenn ich mich selbst beobachtete. Ich dachte: Da muss es doch etwas geben, was schon vorher da war! Nein, Nach-innen-Sehen kann doch nicht automatisch Konstruieren bedeuten. Ich wollte wissen, wie das ist, wenn jemand anderes nach innen blickt. Der noch nicht gelernt hat zu konstruieren –
    War das Innen ein in himmelblaues Geschenkpapier eingepacktes Päckchen mit einer lilafarbenen Schleife, und die Denkprozesse kommen automatisch in Gang, nachdem man die Schleife aufgebunden hat? Gleichfalls nein.
    Waren innen und außen vielleicht gleichberechtigt, bedeutete es lediglich einen Spezialfall, wenn jemand nach innen blickte, oder war innen gänzlich Einbildung, und man glaubte dort das zu sehen, was man vorher außen erblickt hatte? – Aber begann ich nicht schon wieder zu konstruieren? – Der Gedanke, man könne das Nach-innen-Schauen zur einzigen Methode machen und die fortentwickeln. Keine Lehre von den Beziehungen zwischen Leib und Seele, nur Seele – sich durch Selbstbeobachtung den Zugang zur Innenwelt erschließen, das Beobachtete vollständig aufzeichnen, sich ein vollständiges Bild der geistigen Vorgänge machen –
    Da war etwas innen: ein riesiger Raum. Der Würfel oder alles, was den Würfel ausmachte, die Flächen, die Punkte, die Kanten, die Ecken, war einfach da . Man konnte den Würfel manipulieren. Man konnte darüber reden, sich verständigen, was man mit dem Würfel machte. Aber die Flächen, die Linien, die die Punkte zogen, die Ecken, die Kanten waren schon vorher vorhanden in dem unendlichen Raum! Erst kam der Würfel und dann die Sprache!
    Mit besitzanzeigender Selbstverständlichkeit hielt Greta fest, wie sich ihre Gedanken in haschendem Ablauf bildeten, deren kapriziösen Exhibitionismus – er erschreckte und amüsierte Greta zu gleichen Teilen –, aber auch deren autistische Fluchten. Wie ihre Gedanken auftrumpften und einander bekämpften, einander auslöschten oder Waffenstillstände schlossen, in Friedensverhandlungen eintraten, sich aussöhnten und sich