Der Überraschungsmann
sie auch noch an.
Die Kinder flüchteten, ich applaudierte ihr höflichkeitshalber aus der Küche. Lisa kam glücklicherweise gleich zu meiner Rettung herüber, die beiden sangen zweistimmig, und Oma Leonore fühlte sich wieder gebraucht. Lisa war ein ausgleichendes Element. Volker hatte sie anscheinend darum gebeten, ein »kollegiales Verhältnis« zu Leonore aufzubauen, und ich fand es entzückend von Lisa, dass sie sich darauf eingelassen hatte. Wir grillten fast jeden Abend bei uns im Garten. So vergingen die Sommertage: viel zu schnell. Ich hetzte herum, die Kinder chillten tagsüber am Schwimmteich, und ich war heilfroh, dass Lisa sich um sie kümmerte. Emil und sie verstanden sich blendend, wie ein eingespieltes Team kauften sie ein, bereiteten das Essen vor und bespaßten die Mädchen. Charlotte lernte auch eine Menge von Lisa, die sie zu kleineren Hausarbeiten heranzog: Kartoffelschälen, Gemüseputzen, Wäschefalten – all das fand in meiner Abwesenheit ganz selbstverständlich zu Hause statt. Hätte Oma Leonore ihr solche Arbeiten aufgetragen, wäre Charlotte geflüchtet und hätte sich über »Kinderarbeit« beschwert. Aber bei Lisa war das selbstverständlich. Sie selbst kannte es von zu Hause gar nicht anders, dort halfen alle Geschwister mit. Ich war unendlich erleichtert und dankbar, dass Lisa mir so im Haushalt half. Genau wie die Sache zu Beginn ihrer Schwangerschaft war auch ihr Zerwürfnis mit Sven kein Thema. Sie hatte in ihrem Elternhaus gelernt, dass man sich zusammenriss und nicht rumjammerte. Sicher lenkten unser turbulentes Familienleben und die Hausarbeit sie auch von ihrem Kummer ab.
Volker war inzwischen auch froh über Lisas ständige Anwesenheit. Wir hätten sonst eine Haushälterin oder ein Kindermädchen engagieren müssen. Seiner Mutter Leonore hätte man dieses Programm ohnehin nicht zumuten können. Alles fügte sich ganz selbstverständlich zusammen.
Eines Abends hörten wir unserer Lisa alle beim Üben zu. Sie verging regelrecht vor Lampenfieber, und wir wollten ihr helfen und Mut machen.
Oma Leonore begleitete sie mehr schlecht als recht am Flügel. Sie vergriff sich dauernd. Die Aufregung schien sich sogar auf sie übertragen zu haben. »Ich hab meine Brille nicht dabei«, versuchte sie ihre Fehler zu vertuschen. »Außerdem komme ich aus dem Operettenfach und kenne diese Oper nicht so gut.« Ach. Das war mir neu. Aber sie musste ihre Bühne plötzlich mit Lisa teilen. DAS war ihr Problem.
Volker lehnte mit der Videokamera an der Tür. Ich zwinkerte ihm spitzbübisch zu, doch er merkte es gar nicht und filmte nur Lisa. Für Sven, wie er mir zugeraunt hatte. Er wollte ihm die Aufnahmen per Skype schicken.
Die Mädchen hockten auf der Erde. Paulinchen drehte so nervös am Ohr ihres Teddys, dass dieses nur noch an einem seidenen Faden hing.
Mitten in ihrer Arie hörte Lisa auf zu singen. »Ich kann das nicht! Ich schaffe das nicht! Das Baby schnürt mir die Luft ab!«
»Das Baby gibt dir Kraft für zwei!«, versuchte ich sie aufzubauen.
»Red doch keinen Blödsinn!«, bürstete Leonore mich ab. »Du verstehst nichts von Musik, also halt einfach den Mund.«
Wir waren alle schrecklich nervös.
»Wir stehen hinter dir!«, meinte Volker. »Wir werden in der Loge sitzen und dir so fest die Daumen drücken, dass du singen wirst wie eine Nachtigall. Und, Mutter, ich möchte nicht, dass du so mit meiner Frau redest!«
Ich schenkte ihm einen dankbaren Blick.
»Ich bin so schlecht«, stöhnte Lisa.
»Liebste Lisa«, rief ich, »du bist nicht schlecht! Du singst toll!«
Lisa sah sich Hilfe suchend nach Volker um. »Ich halte das einfach nicht länger durch!«
»Doch!«, sagte Volker ruhig. »Du hältst das durch.«
»Lampenfieber gehört dazu«, sagte Leonore belehrend. »Ohne Lampenfieber hat ein Künstler gar keinen Respekt vor der heiligen Musik.«
In dem Moment erbrach sich die arme Lisa auf unseren Parkettboden.
Erschrocken sprang ich auf und holte die nötigen Utensilien, um das Malheur zu beseitigen.
»Wääähh«, schrie Pauline, »jetzt muss ich auch gleich kot zen!«
»Stell dich nicht so an!«, fauchte Charlotte, die auch schon ganz grün im Gesicht war.
»Es tut mir so leid«, stöhnte Lisa. »Ich bin so schlecht!« Dann fing sie fürchterlich an zu weinen. Volker wurde ganz weiß im Gesicht. Als er seine Kamera beiseitelegte, sah ich, dass seine Finger zitterten.
»Das heißt, mir IST schlecht, nicht ICH BIN schlecht«, murmelte Paulinchen.
Leonore
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