Der Überraschungsmann
und wenn ich weine, kann ich nicht singen …«
»Wein ruhig, du Arme«, sagte ich mitfühlend. »Ich bin ja bei dir.«
»Das IST ja das Schlimme!« Fast boxte sie nach mir. »Ich nutze dich nur aus!«
»Quatsch, im Gegenteil! Du hast mir den ganzen Sommer über so toll geholfen – was hätte ich ohne dich bloß gemacht?«
Sie rollte sich zusammen wie ein Igel. »Ich bin so schlecht!«
»Nein! Du bist gut! Das klingt fantastisch, ich habe dich üben hören!«, versuchte ich sie aufzubauen. »Ich bewundere dich sowieso, wie du das alles schaffst, diese schwere Partie, die Schwangerschaft und …«
»Bitte REDE nicht davon!«, stöhnte sie, und ihre Stimme brach. »Ich schaffe das NIE ! Ich halte das einfach nicht durch!« Die Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Das war ja nicht gerade aufbauend von mir. Trotzdem musste ich das Thema einfach ansprechen: »Sag mal, Süße, will denn dein Sven denn gar nicht mehr bei der Geburt dabei sein?«
»Er ist ein Arschloch!«, schluchzte sie und fuhr erst recht die Stacheln aus.
»Ist denn das Zerwürfnis so endgültig, nur wegen der paar Kondome?« Ich strich ihr unablässig über den Rücken. »Ich meine, dass er sie im Kulturbeutel hatte, BEWEIST doch nichts!«
»Er ist ein Arschloch, das hat sogar Volker gesagt!«
Ups! Volker hatte Lisa gesagt, wie er die Situation einschätzte? Kein Wunder, dass sie da verzweifelt war! Ich war wirklich irritiert. Damit hätte er sie doch verschonen müssen!
»Können wir bitte flüstern?« Die Kinder sollten nichts mitbekommen. Fassungslos schüttelte ich den Kopf. »Hast du denn gar nicht versucht, dich noch mal mit ihm auszusprechen?«
»Ich kann ihn nicht erreichen! Er ist da oben in Alaska, ohne Internetempfang!«
Ich nahm sie bei den Händen. »Hast du es denn versucht?«, hakte ich nach.
»Ja, natürlich! Was glaubst du denn! Er antwortet nicht auf meine E-Mails!«
»Und anrufen … Geht das nicht?« Ich versuchte, so locker wie möglich zu klingen.
Endlich wandte sie mir das Gesicht zu. Die pure Verzweiflung stand darin. »Weißt du, wie blöd das ist, wenn er da nie allein ist auf seiner Brücke, sondern immer von seinen Offizieren und Matrosen umgeben ist? Wie sollen wir da vernünftig reden?«
» MÖCHTEST du denn noch mal vernünftig reden?«
»Ich weiß nicht! Oh, Barbara, es ist alles so schrecklich verfahren, ich weiß keinen Ausweg …«
Sie ließ ihren Kopf gegen meine Schulter fallen. »Weißt du, es ist verrückt, aber inzwischen fühle ich mich bei euch viel wohler als bei ihm. Ihr seid mir so vertraut geworden, und er ist mir so fremd.«
Ich nickte betroffen. »Ja, das kann ich verstehen. Wir hatten einen so harmonischen Sommer, und er war einfach nicht dabei. Die Kondomgeschichte hat dein Vertrauen in ihn natürlich erheblich erschüttert.«
»Ich vertraue EUCH «, sagte Lisa plötzlich mit fester Stimme.
»Ach, Liebes …« Ich wiegte sie in den Armen. Wie gern ich sie doch hatte!
»Sogar mit Nathan verstehe ich mich jetzt viel besser«, schniefte Lisa. »Ich habe euch alle so ins Herz geschlossen, deine süßen Kinder, dich und Volker – ja, selbst Oma Leonore kümmert sich um mich. Wenn sie nicht gerade trällert …« Jetzt lachte sie unter Tränen. »Ihr seid genau das, was ich mir immer gewünscht habe: eine tolle, große Familie, in der ich meinen Platz gefunden habe.«
Ich starrte sie nur an. Ich wagte weder ihr zuzustimmen noch ihr zu widersprechen. Wenn ich es recht bedachte, waren wir nämlich jetzt ganz genau an dem Punkt, vor dem Volker mich immer gewarnt hatte. »Lass es nicht zu eng werden mit ihr«, hörte ich ihn sagen. »Sie ist unsere Nachbarin. Wir werden sie sonst nicht wieder los.«
Aber ich hatte ja alles getan, um sie in unser Leben zu holen. Schon fast aus Trotz Volker gegenüber. Mich durchzuckte ein schrecklicher Gedanke. Wenn sich Sven jetzt tatsächlich aus dem Staub machte, hatten wir nicht nur Lisa, sondern auch ihr Baby an der Backe. Volker HATTE mich gewarnt! Plötzlich war mein Kopf ganz leer.
»Ist alles in Ordnung mit dir?« Lisa befreite sich aus meiner Umarmung und musterte mich besorgt. »Mir geht es jetzt nämlich schon viel besser! Danke, dass du mich getröstet hast!«
Lisa schenkte mir ein entwaffnendes Lächeln aus verweinten Augen, aber ich konnte es im Moment nicht erwidern. Sosehr ich mich bemühte, ihr gerade eine liebevolle Freundin zu sein, so sehr bedrückte mich plötzlich der Gedanke, genau in die
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