Der Überraschungsmann
sandte meinem armen Kind einen strafenden Adlerblick, der es sofort zum Schweigen brachte.
»Kind, so was kann doch passieren!«, tröstete Leonore unsere liebste Lisa. »Ich habe mir früher auch immer vor Angst in die Hose gemacht! Bei der Operettenaufführung war ich dann spitze!« Sie fing an zu trällern: »Schlösser, die im Monde liegen …«
»Mutter, jetzt nicht!«, sagte Volker.
Ich rutschte auf den Knien herum und wischte das Erbrochene auf.
»Volker, kannst du ihr nicht irgendwas geben?«
»Ich überlege gerade …«
»Irgendwas gegen Lampenfieber?«
»So was lässt sich mit Tabletten nicht abstellen«, sagte Volker und wiegte bedenklich den Kopf. »Wenn ich ihr Beruhigungsmittel gebe, gefährden wir das Baby. Sie hat dem Kind schon genug zugemutet.«
Oh Gott! Ich schlug die Hände vor das Gesicht. Wie sollten wir der armen Lisa nur helfen? Sie war ja ein psychisches Wrack!
»Ich stehe das nicht mehr durch«, jammerte Lisa erneut. Sie würgte, bis nur noch Galle kam. Ich streckte ihr den Spucknapf hin und hielt ein Handtuch bereit.
»Armes Mädchen! Sie hat es aber auch wirklich nicht leicht!« Leonore tätschelte Lisa mitleidig den Rücken. »Schwanger von einem verlogenen Kerl, der nichts taugt, und dann aber Lache, Bajazzo !«
»Mutter!«
»Männer sind Schweine«, sagte Leonore. »Alle!«
»Ist ja gut, Mutter!« So scharf hatte ich Volkers Stimme noch nie erlebt. Es war das erste Mal, dass Volker sich traute, seine Mutter so in ihre Schranken zu weisen. »Lisa gehört hier zur Familie, und mit solchen Bemerkungen hilfst du ihr auch nicht weiter.«
Ich sah ihn dankbar an. Endlich hatte er es gesagt! Lisa gehört zur Familie!
»Setz dich erst mal!« Wir schoben Lisa auf das Wohnzimmer sofa. Ihre Beine zitterten wie Espenlaub. Paulinchen drängte ihr den Teddy auf, bei dessen Anblick sie schon wieder weinen musste.
»Hm? Schätzchen!«, sagte Volker leise und befühlte ihre Stirn.
Ich zuckte überrascht zusammen und freute mich, dass Volker Lisa endlich genauso ins Herz geschlossen hatte wie der Rest unserer Familie. Dann kochte ich erst mal Tee, anschließend saßen wir alle im Kreis um die verzweifelte Lisa herum. Wir flößten ihr die heiße Flüssigkeit ein und sagten, dass sie die Premiere bestimmt bravourös meistern würde. Sie solle sich das Publikum doch einfach in Unterhosen vorstellen. Letzteres war Leonores glorreiche Idee.
»Oder ganz nackert«, fügte Paulinchen in kindlichem Eifer hinzu.
Lisa musste unter Schluchzern lachen. Ein Rotzfaden seilte sich von ihrer Nase ab.
»Hm?« Ich strich ihr aufmunternd über den Rücken. «Du hattest doch beim letzten Mal auch keine Angst vor der Premiere! Wovor fürchtest du dich diesmal nur so?«
»Das hat sie doch eben schon gesagt!«, bellte Volker mich an. »Sie ist schwanger, und das Kind drückt ihr aufs Zwerchfell.«
Ich schüttelte den Kopf. Sie war schwanger und hatte Krach mit dem Vater ihres Kindes. Das hätte mich auch fertig gemacht.
Irgendwann waren die Festspiele zu Ende, die Bänke auf dem Domplatz wurden wieder abgebaut, die Hofstallgasse vor dem Festspielhaus wurde mit Wasser abgespritzt und endgültig von den Pferdeäpfeln befreit. Die Straßen leerten sich wieder, der Makartsteg drohte nicht mehr einzustürzen, und die Tomaselli-Terrasse lag wieder im Morgenfrieden da. Im Café Bazar saßen nur noch Salzburger, die dort ihre Zeitung lasen, und die Panoramabusse schaukelten nur noch zweimal am Tag ins Salz kammergut, um ein paar spärliche Herbsttouristen an den Mondsee, den Wolfgangsee und nach Bad Ischl zu fahren.
Die Bäume färbten sich bunt, die Hellbrunner Allee war eine einzige rotgelbe Farbenpracht, und es duftete nach Herbst. Abends machte man in den Häusern bereits die Kamine an, es roch nach Rauch.
Es war eines dieser Wochenenden, an dem man zum ersten Mal dicke Socken anzieht. Volker machte Hausbesuche, die Großen waren bei Wiebke. Die Mädchen saßen in ihren Zimmern, Lisa hatte bei uns im Wohnzimmer ihre Partie geübt, aber jetzt war es schon länger still.
Ich steckte meinen Kopf zur Tür herein. »Lisa? Alles in Ordnung?« Ich schlich mich ins Wohnzimmer, wo Lisa auf ihrer Gymnastikmatte lag und verzweifelt Atemübungen machte.
»Ich glaube, ich muss sterben!« Sie ließ sich zur Seite plumpsen wie ein Kartoffelsack.
»Liebes, komm, lass uns reden!« Ich setzte mich neben sie auf die Erde. »Lisa. Ich bin für dich da.« Mir wurde ganz warm vor Zuneigung.
»Ich muss schon wieder weinen,
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