Der Überraschungsmann
wie eine Schülerin, die etwas ganz Peinliches angestellt hat. »Du kannst es ruhig sagen – es bleibt schließlich alles in der Familie, wie so vieles hier, nicht wahr, Volker?«
Mir verschlug es die Sprache. Volker hatte mit Wiebke über meine Verdauung gesprochen? Schockiert starrte ich meinen Mann an. Ich konnte es nicht glauben.
»Also, ich glaube nicht, dass das jetzt der richtige Moment ist, um über meine Verdauung zu reden.« Ich schämte mich fürchterlich.
»Du musst dich mal so richtig ausleeren«, sagte Wiebke. »Sonst faulst du von innen.«
»Wiebke, halt den Mund!«, sagte Volker drohend.
Aber Wiebke ging gar nicht darauf ein. »Volker hat seine Verdauung konsequent trainiert«, berichtete Wiebke. »Immer morgens um zehn nach sieben. Hat die Verdauung das erst einmal gelernt, kann man die Uhr nach ihr stellen.«
Ja, das tat Wiebke sicher. Nach ihren Morgenkötteln die Uhr stellen. Wahrscheinlich hatte sie gar keine Uhr – sie verließ sich einfach auf ihre natürliche Darmtätigkeit.
»Richtige Männer gehen mit der Zeitung aufs Klo und wissen anschließend über die Weltpolitik Bescheid!«, versuchte Emil die Situation zu entschärfen. »Das habe ich von meinem Vater gelernt!«
»Also bitte!«, empörte sich Leonore. »Was sind denn das für Gespräche am hochheiligen Weihnachtsfest!«
Die Kinder brachen in lautes Gelächter aus. Ich suchte Lisas Blick, doch die kicherte fast hysterisch in ihr Rotweinglas hinein.
Ich konzentrierte mich lieber wieder auf meine Geschenke. Von Lisa bekamen wir ein Jahresabo fürs Landestheater. Und Volker überraschte mich mit einem Gutschein für eine gemeinsame Skitour, die ich mir schon länger gewünscht hatte. In letzter Zeit war er immer ohne mich unterwegs gewesen, weil ich halt so eine feige Nuss war.
»Es ist ein Gutschein für Skitouren ohne schwarze Piste!«, fügte mein Liebster erklärend hinzu.
»Oh, Volker, du bist einfach der Beste …« Ich konnte meine stürmische Abküssattacke gerade noch in eine gemäßigte Um armung umwandeln, als ich Wiebkes spöttischen Blick auf fing. Was war das nur für ein merkwürdiges Flackern in ihren Augen?
Die Handtasche! In welchem meiner Pakete war die Handtasche? Ich konnte es kaum erwarten, sie auszupacken.
Von meinen Töchtern bekam ich selbst Gemaltes, selbst Gebasteltes, von Emil einen Gutschein über »dreimal auf Fanny aufpassen« und von Nathan, wie erwartet, nichts. Seiner Mutter Wiebke schenkte er immerhin seine alten Bridgekarten, nachdem er ja nun neue bekommen hatte. Alles in allem: ein hochinteressantes Familienschauspiel, an dem so mancher Heimpsychologe seine Freude gehabt hätte.
Ich weiß nicht, wie viele Umarmungen es an diesem Heiligabend gab, wie viele Überraschungs- und Freudenschreie, wie viele Dankesküsse, wie viele insgeheim verdrehte Augen, wie viele unauffällig unter den Teppich gekehrte Krümel und Geschenkpapierschleifen und wie viele heimlich weggewischte Rührungs– und Enttäuschungstränen.
Nach der Christmette, in der Leonore gar schaurig tremolierte und ich mich in eine andere Bank wünschte, schneiten doch tatsächlich noch die Leute vom Mozarteumorchester he rein – hungrig, durchgefroren und erwartungsvoll. Das Musizie ren, Plaudern, Lachen und Gläserklingen ging bis in die frühen Morgenstunden hinein. Ich spülte, so schnell ich konnte, und Emil sprang immer öfter in den Weinkeller hinab. Zwischendurch bezog ich schnell für Leonore das Gästebett und legte ihr frische Handtücher hin, denn mir war klar, dass niemand sie mehr nach Hause fahren würde. Ich tröstete Fanny, die von dem ganzen Lärm aufgewacht war und mit feucht gepinkeltem Schlafsack schreiend in ihrem Gitterbettchen stand.
»Lass mal!«, sagte ich zu Lisa, die pflichtschuldigst hinter mir her gerannt war und Anstalten machte, ihre Tochter aus dem Bettchen zu nehmen. »Du machst dir nur dein wunderschönes Kleid schmutzig. Geh raus in den Salon und sing noch was! Ich bleibe hier bei Fanny, bis sie wieder eingeschlafen ist!« Eigentlich wollte ich nur mal ein paar Minuten durchschnaufen. Außerdem war die Kleine inzwischen so auf mich fixiert, dass sie sich nur von mir säubern und umziehen ließ.
Ich weiß nicht, wie ich das Ganze überstanden habe. Wahrscheinlich war ich meinerseits kurz vor einem Burnout, aber der ganze Aufwand hatte sich gelohnt. Niemand würde dieses Fest jemals wieder vergessen.
Am allerwenigsten ich.
»Du bist eine großartige Gastgeberin«, murmelte Volker
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