Der übersehene Mann: Roman
Mal mit ihr treffe, aber ohne kann ich mich schon gar nich blicken lassen.«
»Weißte, Jamie, es gib welche, die tragen so Tuppetts oder Perücken und solche Sachen. Ich seh immer die Anzeigen im Exchange & Mart. Probier doch mal so eins aus.«
»O Gott, Rose, also ich weiß wirklich nich. Meinst du wirklich?«
»Weißte, Jamie, wie ich immer zu meim Paddy sag: Sie würden keine Werbung machen in der Zeitung, wenn sie kein Erfolg damit hätten, denn wenn die Leute das nicht kaufen täten, dann gibt’s gar kein Grund, da Werbung für zu machen.«
»Klar, ich versteh schon, was du meinst, Rose, du hast bestimmt recht«, räumte Jamie ein, auch wenn es ihn etwas beunruhigte, mit welcher Leichtigkeit Rose all die Hindernisse zur Seite räumte, die er auf dem Weg zu seinem ehelichen Glück vor sich sah.
Sie beugte sich jetzt über ein Zeitschriftenregal neben Paddys Lehnsessel – einem Regal, das aus Pfeifenreinigern, Lutscherstengeln, Toiletten rollen und Wollresten hergestellt worden war –, fischte eine Ausgabe der fraglichen Zeitschrift heraus und warf sie Jamie auf den Schoß.
»Bitte schön, Jamie. Kannst sie mitnehmen und dir’s in aller Ruhe ansehen. Ich glaub, die Perücken kommen zwischen den Miedern und den Schlüpfern, wenn ich mich recht erinnere, aber Gott seis geklagt, mein Gedächtnis is manchmal wie ’n Sieb, also nagel mich nich dran fest!«
Jamie nahm die Zeitung dankbar entgegen. Langsam erwärmte er sich für Roses schöne Vision. Ein ordentlicher Anzug von Harvey. Eine Perücke aus der Exchange & Mart. Eins war sicher: Er würde gut aussehen, wenn er sich mit dieser Dame traf, und das wäre vielleicht schon die halbe Miete.
Er stand auf. Seine Einbildungskraft war kurz vor dem Siedepunkt – wie die Suppe auf dem Herd.
»Na gut, ich will dich nich länger aufhalten, Rose.« Er steckte die Anzeige, den Block und den Umschlag ins Einkaufsnetz. Den zugeklebten Brief verstaute er in der Innentasche über seinem Herz. »Wirklich vielen Dank.«
Rose nahm die Brille ab, steckte sie ins weit geöffnete Fischmaul zurück und strich die Schürze glatt. Ihren ausladenden Busen zierte eine heitere Landschaft mit grasenden Schafen.
»Da nich für, Jamie. Hauptsache, es hilft dir weiter. Und wenn du noch so’n Brief geschrieben brauchst, lass es mich wissen.«
»Ja, vielen Dank, machs gut, Rose«, sagte er und ging zur Tür.
»Machs gut, Jamie, und möge die Sonne immer auf dein Schwein scheinen«, sagte sie und hob den Deckel von der Suppe.
Und damit stieg Jamie aufs Rad, eine Rumkugel im Mund, frohen Mutes und leichten Herzens, während er sich eine heitere Zukunft ausmalte. Eine Zukunft, in der er ein sauberes Haus wie das von Rose sah, einen Esstisch mit einem schönen Tischtuch, einen Garten voller Blumen und eine Frau in seinem Bett.
Na ja, vielleicht nicht im Bett. Vielleicht eher im Stuhl am Feuer.
10
Sechsundachtzig konnte nicht schlafen. Er lag in stockfinsterer Nacht auf dem Bauch und wusste nicht, wie spät es war, glaubte aber, dass es bald dämmern würde. Er fürchtete sich vor dem Licht ebenso wie vor der Dunkelheit, denn beide verbreiteten Angst und Schrecken. Die Bürden des Tages wurden in der Nacht zu den Dämonen, gegen die er ankämpfen musste.
Er konnte sich wegen seiner Schmerzen nicht auf den Rücken drehen, und auf einmal kam ihm wieder ins Bewusstsein, dass er ins Bett gemacht hatte.
Die anderen Kinder um ihn herum schnarchten und warfen sich in ihren qualvollen Träumen hin und her. Bald würde Schwester Veronica durch den Schlafsaal fegen und wie wild auf die große Triangel einschlagen. Bald würde sie die Bettdecken zurückschlagen und nach Anzeichen »unangemessenen Verhaltens im Bett« – wie sie es nannte – Ausschau halten. Bald müsste er sich entweder das nasse Laken umbinden oder es in der Wanne draußen waschen. Das hing von ihrer Stimmung ab.
Und auf einmal war er bereits mitten in dem trostlosen Geschehen, das er sich eben erst vorgestellt hatte. Sechsundachtzig sprang aus dem Bett und nahm Haltung an, sein Herz hämmerte und seine Kehle war wie ausgedörrt. Zusammen mit den anderen Jungen zitterte er beim Anbruch eines neuen Tages, dessen einzelne Minuten und Stunden sich elendig in die Länge ziehen würden und die er irgendwie ertragen musste.
Die Nonne kam langsam an den Bettreihen näher, sie beugte sich vor, untersuchte die Laken und schnupperte mit zuckender Nase. Zehnmal landete ihr Stock auf dem Hinterteil eines Jungen, wenn er Anstoß
Weitere Kostenlose Bücher