Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
Vom Netzwerk:
erregt hatte. Am Bett vor dem seinen hielt sie an.
    »Du schon wieder, Vierundachtzig! Das dritte Mal in dieser Woche. Du wirst es nie lernen! Komm hierher!«
    Mit dem Stock deutete sie vor das Bett. Vierundachtzig zog das Nachthemd über den Kopf und bückte sich pflichtbewusst, um die Schläge auf seinen nackten Hintern entgegenzunehmen.
    Die anderen standen mucksmäuschenstill, als die Hiebe niedergingen und versuchten, nicht hinzusehen, sondern starr geradeaus zu blicken. Alle zählten mit und litten unter jedem Hieb; alle wussten, wie erniedrigend es war, das Bett genässt zu haben und die Demütigung der gnadenlosen Nonne ertragen zu müssen. An einem Morgen wachte man erleichtert auf einem makellos trockenen Laken auf und am nächsten auf einem nassen. Man konnte nichts dagegen tun, man konnte nur beten.
    »Was ist das, Sechsundachtzig?« Die Schwester zeigte auf sein blutverschmiertes Laken.
    »Ich weiß es nicht, Schwester«, stammelte der Junge.
    Er hielt den Kopf gesenkt, wie immer, und sah auf seine nackten Zehen hinunter, die auf dem kalten Boden inzwischen schon blau geworden waren. Draußen krächzte ein Rabe im heulenden Wind.
    »Bück dich. Lass mich mal sehen.« Das hatte er nicht erwartet. Er hätte alles getan, nur damit sie ihn nicht untersuchte. Er konnte jetzt schon das beleidigende Lachen beim Frühstück hören. Hätte sie ihn doch einfach nur geschlagen und er hätte es hinter sich. In dieser Notlage tat er das Einzige, was er konnte. Er begann zu weinen.
    »Sechsundachtzig, ich sage es nicht noch einmal. Komm jetzt hierher!«
    Sie schlug mit dem Stock gegen das Bettende. Sofort sprang er dorthin und zerrte sein Nachthemd ungeschickt in die Höhe. Die Nonne beugte sich herab. Beim Anblick der tiefen Wunden auf dem Gesäß des Kindes schreckte sie zurück. Wieder krächzte der Rabe, als mache er sich überihn lustig. Sechsundachtzig zitterte in seiner Blöße und betete darum, dass es schnell vorübergehen würde.
    »In Ordnung.« Ihre Stimme war nicht mehr hart. Er beugte sich automatisch vornüber und wartete mit schmerzhaft verkrampften Muskeln auf die Stockhiebe.
    Aber nichts geschah.
    »Nein, Sechsundachtzig. Wie ich sehe, hast du deine Strafe schon gestern Abend bekommen.«
    Er konnte den Anflug von Mitleid in ihren Augen nicht sehen, als er das Nachthemd wieder herunterließ. Er schämte sich so sehr für das eben Erduldete, dass er nicht zu ihr hochsah.
    »Und jetzt bring dein Laken zum Waschen.«
    Sie ging zum nächsten Bett.
    Von den zwanzig Jungen, die ins Bett gemacht hatten, mussten sich siebzehn die nassen Laken um die Taille knoten und sie zur Strafe den ganzen Tag herumtragen. Die übrigen drei hatten mehr Glück, denn sie mussten ihre nur auswaschen. Sie standen an der Pumpe im kalten Hinterhof, ihre Vergehen lagen als durchweichte Haufen vor ihnen im Waschzuber.
    Schwester Veronica pumpte Wasser in die Wanne – ein brausender Schwall, mit dem die Jungen ihre Verderbtheit wegwaschen sollten. Sie packten die Karbolseife mit ihren kleinen Händen und rieben sie mit wunden Fingerknöcheln in den rauen Stoff.
    Doch die Blutflecken waren schwer herauszubekommen, und so war Sechsundachtzig wieder der Letzte. Der Letzte, der sein tropfnasses Laken über den Stacheldrahtzaun zum Friedhof hängte, der Letzte in der Schlange für den Löffel Lebertran und das dürftige Frühstück.
    Ihm war es egal. Er konnte sowieso nichts essen.
    Der Lebertran wurde allen sechsundneunzig Jungen vom selben Metalllöffel verabreicht; er legte sich zähflüssig auf sechsundneunzig Zungen und jeder Junge wollte nichts mehr, als ihn Schwester Mary ins Gesicht zu spucken. Sechsundachtzig hatte gelernt, ihn schnell herunterzuschlucken, nicht darüber nachzudenken, seine Schüssel für den Schlagklumpigen Haferbrei hinzuhalten und sie sofort zum nächsten freien Platz im langen Speisesaal zu tragen.
    Er ließ sich vorsichtig auf die Holzbank nieder. Doch bei der Berührung mit der harten Sitzfläche durchschoss ihn der Schmerz, ein Schmerz so erbarmungslos und brennend, dass es sich anfühlte, als läge er wieder in Keaneys Zimmer auf dem stinkenden Bett und müsse noch einmal seine brutalen Schläge ertragen. Er schloss die Augen und hielt den Kopf über die Schüssel gebeugt. Mit den Hinterbacken nur halb auf der Bank versuchte er zu essen.
    Vierundachtzig, der sich des gleichen Vergehens schuldig gemacht hatte, saß genauso neben ihm. Er trug das Abzeichen des chronischen Bettnässers: ein nasses Laken

Weitere Kostenlose Bücher