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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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Wetter?«, fragte sie ihn.
    »Nein, Miss. Die Klimaanlage ist nur kaputt, ich glaube, eine Krähe ist ins Gebläse geflogen. Aber sie wird gerade repariert.« Er riss einen Zettel von seinem Block und steckte ihn unter den Aschenbecher.
    Lydia wandte sich wieder Mr McCloone zu. Nun fiel ihr die tiefe Narbe unter seinem rechten Auge auf.
    Und sie erkannte den lauten Gast aus dem Ocean Spray wieder. Auch die Gewohnheit, sich das rechte Ohr zu reiben, kannte sie bereits, ebenso wie die Handbewegung, mit der er den Sitz seiner Haare kontrollierte. Aber er hatte sich irgendwie verändert, seine Haare sahen auf jeden Fall anders aus und er war viel besser gekleidet. Außerdem hatte er ganz schön abgenommen.
    »Haben wir uns nicht irgendwo schon einmal gesehen?«, fragte sie ihn.
    »Nein, das glaube ich nicht«, log Jamie und fummelte an einer Ecke der Zeitung herum.
    Dabei erinnerte er sich nur allzu gut an sie – wie hätte er ihre Begegnung auf der Promenade vergessen können?
    Sie stand ihm noch klar vor dem inneren Auge, wie sie mit ihrer Spitzenbluse, einem grünen Rock und einem Korb über dem Arm an ihm vorbeigegangen war. Aber vor allem ihr großzügiges Lächeln, mit dem sie ihn angesprochen hatte. Er hatte sich am Strand entlang treiben lassen, Lakritze gegessen und über die verlorenen Tage seiner Kindheit geweint, als diese Fremde ihn erkannte und mit ihrem Lächeln in die Gegenwart zurückbrachte.
    O ja, und wie er sich an Lydia erinnerte. Von dem Tag an hatte er oft an die geheimnisvolle Frau auf dem Fußgängerpfad gedacht. Er konnte einfach nicht glauben, dass er ihr jetzt gegenübersaß.
    »Und wie geht’s auf der Farm?«
    Die Frage überraschte Jamie. Er versuchte sich daran zu erinnern, was er in seinen Briefen geschrieben hatte.
    »Eigentlich ganz gut. Es gibt ein bisschen Heu zu machen und dann ist da noch ... dann gibt es noch ...« Er war so überspannt wie Judas beim Letzten Abendmahl und hoffte inständig, der Drink würde bald kommen. »Dann gibt es noch ...«
    »Die Tiere?«
    »Jawohl, ich meine ja, die Tiere, aber um die muss man sich täglich kümmern.«
    Als er Miss Lydia Devine nun endlich gegenübersaß, übermannte ihn die Schüchternheit und er war trotz seiner einundvierzig Jahre entsetzlich befangen. Er wusste nicht, wie er sich daraus befreien konnte, was er sie fragen sollte. Dann fiel ihm ein, dass sie Lehrerin war.
    »Und wie ... wie geht’s in der Schule?«, platzte er heraus.
    »Ich habe Ferien. Sommerferien.« Wie viel sollte sie diesem Fremden von sich erzählen, fragte sie sich.
    »Jawohl, stimmt. Ich meine, ja. Stimmt.« Jamie sah sich betreten um und war froh, als er den Kellner die Drinks bringen sah.
    »Aber wenn ich in der Schule bin, gefällt es mir.« Lydia versuchte, entspannt zu klingen. »Trotzdem sind Ferien gut. Wir brauchen alle Zeit für uns selbst.«
    Jamie hatte einen Zehn-Pfund-Schein aus seinem Portemonnaiehervorgekramt, aber er war so übereifrig, dass dieser zu Boden flatterte. Als er wieder auftauchte, war sein Gesicht von der Peinlichkeit und der Hitze deutlich gerötet. In der Hand hielt er den Geldschein.
    »Wo ist denn der ...?«
    »Ach, machen Sie sich keine Sorgen, James. Ich habe es schon geregelt.«
    Als er protestieren wollte, hielt sie ihr Glas hoch und hörte sich etwas sagen, von dem sie wusste, dass sie es wahrscheinlich nicht sagen sollte. Aber in diesem Augenblick hätte sie alles getan, nur damit James sich wohlfühlte.
    »Auf Ihr Wohl, James. Auf Sie und mich.«
    James war freudig erregt. Miss Devine konnte nicht ahnen, wie ihre Worte auf ihn wirken würden. Es konnte doch nur heißen, dass sie ihn trotz seiner vielen Mängel akzeptierte, und er konnte kaum glauben, dass er sie richtig verstanden hatte. Die einzigen beiden Frauen, die sich je etwas aus ihm gemacht hatten, waren seine Tante Alice und Rose McFadden.
    Aber diese Fremde war irgendwie anders. Sie wusste fast nichts über ihn, nur das Wenige, was er in seinen zwei Briefen von sich preisgegeben hatte. Er hätte sich am liebsten vor ihr verbeugt.
    Stattdessen hob er sein Glas und erwiderte ihr Lächeln.
    »Ja, auf mich und Sie«, sagte er. »Ich meinte: auf Sie und mich, Lydeea.«
    Er trank einen ordentlichen Schluck Whiskey.
    »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche, Lydeea?«
    »Nein, überhaupt nicht. Bitte, rauchen Sie nur.«
    Sie versuchte, sich ein Herz zu fassen und ihm zu sagen, wie ihre Umstände sich verändert hatten, doch sie wartete noch auf den richtigen Moment.

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