Der Umweg nach Santiago
mir jemand, denn dann strömt ganz Spanien hierher, dies sind nur die Frauen. Nur die Frauen! Es hat ganz den Anschein, als wollten sie die Welt mit ihren wilden Tänzen zertreten, wenn es nicht gleichzeitig so fröhlich wäre, würde man an Mänaden denken oder Bacchantinnen. Wer keine Tracht trägt, tanzt in Turnschuhen und Trainingsanzügen, sie haben kein Auge für irgend etwas außer sich selbst.
Aus der Ferne nähert sich entlang der Schlachtordnung der niedrigen weißen Häuser in einer roten Staubwolke ein High-noon -Cowboy auf seinem Pferd, doch er ist unsichtbar, hier gibt es nur die immer wieder einsetzenden Sevillanas und Malagueñas, die größer und kleiner werdenden Kreise, die eigenen Staubwolken, in denen getanzt wird, das Glück eines Nachmittags.
Ich stehe unter einem Eukalyptusbaum zwischen ein paar alten Männern, die sich etwas dümmlich anlachen und sich heimlich zur wirbelnden Musik wiegen, stundenlang, gefangen in den eigenen arabischen Echos, aber daran will ich nicht denken, ich will, daß die Geschichte aus meinem Kopf getanzt wird, weggetrommelt und mit dem Wind weggeweht, hinein in die flimmernde Hitze des Nachmittags.
Aber vielleicht, meldet sich mein Gehirn noch, ist es genau das, was Hegel meinte. Jeder, der tanzt, tanzt auf einer Vergangenheit, und dieses Lachen gehört zur Komik. Womöglich ist dies der Primat des Lebens über den Tod, und Kunst, gleichgültig in welcher Form, eine Bestätigung dafür? Doch nun haben ganz andere Instanzen Besitz von meinem inneren Haushalt ergriffen. Sie weisen die großen Worte zurück und legen einen Flamenco hin, den niemand sieht.
1986
1 Sprichwörtliche Redensart im Niederländischen, die auf den Marineoffizier J. C. J. van Speijk zurückgeht, der 1831 sein Kanonenboot in Antwerpen lieber in die Luft jagte, als es in die Hände der Rebellen fallen zu lassen. (Anm. d. Übers.)
2 Gelderländer Soldat im 15. Jahrhundert, der in einer bedrängten Situation von einem Turm in den Tod sprang. (Anm. d. Übers.)
D IE L ANDSCHAFT M ACHADOS
Nein, ich habe hier nichts zu suchen, ich kam nicht Valencias wegen, es soll nur der Ausgangspunkt für eine andere Reise sein, in den Süden, nach Úbeda, Baeza, Granada. Diese eine Nacht werde ich hier bleiben, das ist alles, ich werde mir nicht noch eine ganze Stadt antun. Ich bin über die Brücken mit den trockenen Flußbetten gegangen, bin an dem nicht existierenden Wasser entlangspaziert, jetzt sitze ich in einem kleinen Park neben dem Standbild des Malers Pinazo, es ist Sommer, die Bäume stehen reglos da, ich bin ein Agent ohne Mission, morgen geht es erst los, laßt mir noch ein wenig Ruhe, Spanien ist schwer, und ich habe den Norden noch nicht ganz abgeschüttelt.
Das kann schon sein, aber hast du denn im Fernsehen die violett gewandeten Bischöfe mit den weißen Mitren nicht gesehen, katalanische Bischöfe in einer romanischen Kirche, mittelalterlich verkleidet? Und sprachen sie nicht von der katalanischen Nation und klang das nicht nach Damals und Einst, nach den Tagen der Krone von Aragonien, zu der die Grafschaft Barcelona und das Königreich Valencia gehörten, unabhängige Länder, jedes mit eigenem Parlament? Was ist neu, was ist alt? Der Tonfall des Eides, den der Adel damals seinem König schwor, klingt in den heutigen Autonomiebestrebungen noch immer durch: »Nos, que cada uno valemos tanto como vos y que juntos podemos más que vos, os ofrecemos obediencia si mantenéis nuestros fueros y libertades; y si no, no.« (»Wir, die wir jeder für sich ebensoviel wert sind wie du, und die wir gemeinsam mehr ausrichten können als du, wir bieten dir unseren Gehorsam an, wenn du unsere Privilegien und Freiheiten wahrst; und wenn nicht, nicht.«)
Und wenn nicht, nicht. Jetzt bin ich doch wieder in einem früheren Spanien, dazu verdammt, im Neuen ständig das Alte zu sehen: Die Bischöfe im Fernsehen stammen aus einer illuminierten Handschrift, es ist nicht meine Schuld, daß sie ihren Habit in den letzten tausend Jahren nicht verändert haben. Was ist neu, was ist alt? Ich stehe an der mittelalterlichen Puerta de Serranos, ich habe denvergessenen Maler in seinem Park stehenlassen und blicke auf das Tor, mit dem man eine Stadt abschloß wie ein Haus, wer noch hinein will, muß klopfen und rufen. Uralte Holz- und Schmiedearbeiten, Maße für Riesen oder Reiter mit hohen Lanzen, Anker, Nägel, Eisenbeschläge, Scharniere, Ketten, die valencianische Königskrone, labyrinthische, sich in sich selbst
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