Der Umweg nach Santiago
pluralistischeres Spanien aus seinem neuen Imperium etwas anderes gemacht hätte als eine künftige zweifache Ruine zu beiden Seiten des Ozeans, ist eine unbewiesene These, wieder so eine, die nicht zulässig ist.
Meine Schritte sind am Platz vor der Kathedrale angekommen, sie klingen, als wären sie selbst aus Stein. Im schwachen Licht sehe ich zwei Medaillons an der Fassade des bischöflichen Palastes. Köpfe sind es, ein alter Mann mit geschlossenen Augen, rätselhafterweise in einer Schlinge gefangen, von der er selber ein Teil zu sein scheint, und ein ebenso geheimnisvoller Indianer mit einem Kopfputz aus weit gespreizten Federn. Auch er sieht mich nicht an, aber es scheint, als lache er oder sie ein wenig, während der andere mit seinem abgewandten Kopf weiterhin traurig dreinschaut.
In der Stimmung, in der ich mich augenblicklich befinde, möchte ich darin natürlich etwas sehen, zwei Möglichkeiten, die Vergangenheit zu betrachten, tragisch und komisch oder, wie Hegel sagte, Euripides und Aristophanes, wobei die komische Sicht die Oberhand erringen werde, weil sie den Primat desLebens über den Tod bestätige und obendrein auch noch den Grund dafür wisse. Doch das wäre dann wieder Ironie, die Ironie, die sich fragt, welch tödlichen Fehler wir unwissentlich in diesem Augenblick machen, der irgendwann einmal wie unser Schicksal aussehen wird. Und, denkt der Spaziergänger in Cáceres, wie wäre es, wenn diese Ironie ihrerseits zum unbewußten Fatum gehörte?
Alles, was die Sonne an Laserstrahlen besitzt, ist auf die Erde gerichtet, als ich tags darauf die Stadt verlasse. Ich fahre nach Süden, in ein unhistorisches Gebiet, das Schwemmland am Guadalquivir, Erde ohne Menschen, Reich der Fische und Vögel, mich drängt es, dorthin zu kommen. Sevilla lasse ich links liegen, der Kopf ist voll genug, und auf der Karte ist alles rechts vom Fluß so unbändig, verführerisch leer. Und natürlich verfahre ich mich auf der Suche nach der einzigen Fähre, muß stundenlange Umwege auf nicht existierenden Straßen machen, begegne Männern, die »Geh mit Gott« sagen oder »Möge Gott Euch begleiten« und anderes mehr, was bereits nach dem Erdteil auf der anderen Seite klingt.
Ich fahre ziellos umher zwischen holländischen Gemälden von Fähren, Aalreusen und wogendem Schilf und werde natürlich doch von einer unsichtbaren Hand geleitet, denn wie von selbst lande ich schließlich in dem Dorf El Rocio. Ein Freund hat hier einmal übernachtet und mir einen Gasthof am Ort empfohlen. Dort soll es ruhig sein, so nahe einem der schönsten Naturparks von Spanien, dem Parque Nacional Coto de Doñana, doch an dem Tag, an dem ich dort ankomme, stehen schon Dutzende von Bussen da, und aus allen Bussen klettern, bunter als alle Tropenvögel zusammen, Tausende von Frauen in andalusischer Tracht, händeklatschend und singend.
Ich suche den Gasthof, aber überall an den großen Sandplätzen stehen kleine weiße Gebäude, denn dies, erfahre ich später, ist ein Dorf, das nur wenige Male im Jahr bewohnt ist. Die niedrigen weißen Gebäude sind die Heime von Bruderschaften, die hier einmal im Jahr zur größten Wallfahrt Spaniens zusammenkommen.
El Rocio
Ich fahre zur Kirche, aus der mächtiger, schwelgender Gesang dringt, aber auch draußen wird getanzt und gesungen. Männer sehe ich kaum, und noch immer kommen neue Busse, aus denen all diese grellen Farben schießen. Es bilden sich Kreise, Gitarren erklingen, Trommeln, es sind nur Frauen, die hier spielen und singen, dies ist die Welt nach dem großen Krieg zwischen den Geschlechtern, wenn die Frauen gesiegt haben.
Ich flüchte, aber auch in der kleinen fonda sind alle Tische von Farben und Stimmen über flutet, ein paar Aufseher aus dem Naturpark rutschen enger zusammen und erzählen, dies sei der Tag, an dem alle amas de casa , die Hausfrauen aus ganz Südspanien, zu ihrer jährlichen Wallfahrt zusammenkommen, aus Albacete und Murcia, Sevilla und Córdoba, alle mit ihren eigenen Liedern, die Welt wackelt nur so. Draußen steht ein Tonbandgerät auf einem offenen Landrover, dort tanzen die Rotkreuzschwestern mit bloßen Füßen aufpeitschende Sevillanas, so etwas bekomme ich nie wieder zu sehen.
Glück, das ist es, was hier herrscht und was sich mitteilt, überall das Klappern der Kastagnetten, das Wirbeln von Röcken, nackte Arme, die sich mit um die eigene Achse drehenden Bewegungen neue Buchstaben vor dem blauen Himmel ausdenken. Dies ist nicht die echte Wallfahrt, erklärt
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