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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Jahrhunderte nicht mehr, daß ich nun aber hineinwill, zu den romanischen Fresken. Brummelnd bleibt er zurück, ganz allein mit Luther und Calvin und Alba und Egmont und Hoorne und Philipp, wohingegen ich soviel weiter weg sein will, weg von ihm und weg von seinem sechzehnten Jahrhundert, bei den blassen, zerfledderten Resten von Wandbildern – Fragmente, Hände, halb verschwundene Gesichter. Die Zeit selbst ist hier zum Künstler geworden, und zwar einem, der weiß, daß die meisten Dinge erst durch Weglassen schön werden, sie hat gekratzt, gewischt, das eine bewahrt, das andere verworfen, und so sehe ich es, eine vermengte Frau, nur die Konturen noch erkennbar, eine negative Kreuzigung, Dinge, die man an dem erkennt, was hätte dasein müssen; durch das Fehlen von Schultern, Köpfen, Haltungen sind die Darstellungen abstrakt geworden, Rätsel, Suggestionen, leere Flächen zwischen einem Volk von Heiligen, jeder mit seinem eigenen goldenen Nimbus, so daß der Eindruck entsteht, es habe einst einen Menschenschlag gegeben, der mit dieser goldenen strahlenden Scheibe am Hinterkopf geboren wurde.
    Es ist Freitagabend in Jaca, und hier spielt sich ab, was ich später auch in Logrofio, Burgos, Santiago sehe, eine ungestüme jugendliche Menge zieht durch die Straßen, man könnte meinen, es gäbe Hunderte von Kneipen, und alle quellen sie über. Es ist kalt und doch ist keiner daheim geblieben, ein schwindelndes Gewimmel von Spermatozoiden, die da durcheinanderwuseln. Discomusik knallt an die alten Mauern, der Kontrast zu tagsüber könnte nicht größer sein. Was suchen sie? So etwas sieht man in diesem Ausmaß in Berlin oder Amsterdam nicht, es gleicht noch am ehesten einer lachenden Verzweiflung oder einer tierischen Langeweile, sie strömen in alle Richtungen, ziehen in Kneipen und kommen wieder heraus, haken ihre Blicke ineinander, suchen, werben, trinken, schreien, formieren sich zu Ketten, die wieder auseinanderfallen, bilden Knäuel, wirken betäubt vom Lärm ihrer eigenen hohen Stimmen. Wer daheim bleibt, mußverrückt sein, wer jetzt irgendwo ein Buch liest, wird verbannt oder ausgestoßen, hier muß man jetzt sein, zwischen den ekstatischen Gesichtern mit den glänzenden Augen, der dröhnenden Musik, dem elektronischen Gejaule der Spielautomaten, dem überall wiederkehrenden blauen Schein der Fernsehschirme, zu denen jetzt niemand mehr schaut. Über all diesen Köpfen hängt ein Hauch unerfüllter oder unerfüllbarer Sehnsüchte und gleichzeitig die Ahnung einer Rechnung, die irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, präsentiert werden wird. Ich erinnere mich an eine andere Ekstase, die der Menschenmenge in Madrid, als die Sozialisten einen überdeutlichen Sieg errungen hatten und die Frauen sangen: »Felipe, capullo queremos un bijo tuyo.« (Felipe, Rosenknöpfchen, wir wollen einen Sohn von dir.) Jetzt sollte es soweit sein, Spanien, das so lange innerhalb der eigenen Wände gelebt hatte, würde sich Europa zuwenden, die Schatten der Vergangenheit vertreiben. Alles war nachzuholen, und das ist dann auch geschehen, mit einer Leidenschaft, die das Land atemlos zurückgelassen hat, die gleiche Atemlosigkeit, mit der es auf die großen Feste dieses Jahres zustürmt, ein Rausch, in dem alles in Kauf genommen wird, steigende Preise, ostentativer Materialismus, das Verschwinden von allem, wonach man später unter Mühen wird suchen müssen. Und hinter dieser Erinnerung an den Tag der Wahl sehe ich jene andere, an ein viel älteres Spanien, gefangen in anderen Widersprüchen, Paraden von Männern mit deutschen Helmen, den gleichen, die ich erst zehn Jahre davor in einem ganz anderen Kontext gesehen hatte und die für mein Gefühl so schlecht zu den spanischen Knabengesichtern paßten, aber auch eine andere Art von Menge, anders als diese hier und auch wieder anders als die vom Tag der Wahl oder die der marschierenden Soldaten: eine intime, in sich kreisende Menge, deren Anblick ich nie vergessen habe. Es war in Salamanca. Ich hatte eine Pension an der Plaza Mayor, ein Platz wie ein steinernes Wohnzimmer. 1954. Vom Balkon aus blickte ich auf das vollkommene Geviert des Platzes mit den Arkaden. Keine Gehwege, keine Ablenkung – und in dieser geometrischen Formbewegte sich eine andere Menge im Kreis, bestehend aus Studenten und Lehrern, ein Kreis vor- und zurückgehender Menschen, die miteinander sprachen. So etwas hatte ich noch nie gesehen, und ich war wieder genauso bewegt wie damals, als ich zum ersten Mal, im

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