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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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einen Krieg mit Frankreich zog, der für Spanien ungut endete.
    Verehrter Reisender, haben Sie vergessen, wo Sie sich befinden? Sie stehen auf diesem herrlichen langgestreckten Platz, auf dem jede Erinnerung an Kriege und innere Unruhen verblaßt scheint. Wo das Standbild Ferdinands VI . hätte prangen sollen, bezaubert jetzt eine anmutige Venus, »La Mariblanca« genannt. Sie befindet sich hoch genug, um den eigenartigen Schnecken, Meeresmuscheln und Eidechsen am Sockel keine Gelegenheit zu geben, ihr zu nahe zu kommen.
    Hier kam das einfache Volk mit jener anderen menschlichen Spezies, dem Hof des absoluten Herrschers, in Berührung. Die Bögen der Kolonnade bilden die Verbindung zur Parkanlage, den Blumenbeeten. Auf alten Stichen sieht man noch, wie klassizistisch der Park konzipiert war. Wie ein kompliziert aufgestelltes Regiment standen die geschorenen Sträucher zwischen dem Tajo, dem Platz mit dem Brunnen, der Rückseite des Palastes, vor sich den Dreizack, bestehend aus der »Straße der Königin«, der »Straße des Prinzen« und der »Straße der Prinzessinnen«, welche die Verbindung zum Rest der Welt herstellten.
    Magnolien, Hunderte leerer Vasen, die Leere des Klassizismus, reglementierte Natur, Bäume in Reih und Glied, eine dreifache Platanenreihe, sich leicht verbeugende Bedienstete in ihren pockennarbigen Livreen, der persönliche Besitz der Monarchie.Kugelförmige Liguster in kleine Torbögen gezwängt, auch die Natur mußte gehorchen. Diana liegt trocken in ihrem Springbrunnen, eng an ihren Hund geschmiegt, Rosen, Eichen, Kastanien wachen über den ziellosen Wanderer, zu dem auch ich jetzt geworden bin.
    Griechische Götter und Helden, unschädlich gewordene Ketzerei, die das Heimweh nach dem Höheren offenbar besser ausdrücken konnte als die eigene Zeit, die Unschuld farbenprächtiger Vögel in einer Voliere, ein hellenistischer Ephebe, der sich einen Dorn aus dem Fuß zieht, Herakles und die Hydra, der Brunnen der Harpyien, Karyatiden, die in gebeugter Haltung die Last eines Brunnens tragen müssen, das Auge nimmt es wahr, Bacchus, Ceres, ganze Gruppen halbnackter Damen und Herren mitsamt ihren Attributen – schön wäre es, hier einmal nächtens umherzustreifen und zu hören, was sie sich zu erzählen haben. Sie haben nicht jedem gefallen, denn hier und da fehlt ein Geschlechtsteil, ein Arm, ein Kopf, ein kleiner grinsender Satyr greift unzüchtig mit seiner molligen Hand unter das schamteilbedeckende Traubenbüschel einer Nymphe. Ich spaziere an diesen Traumfiguren vorbei, die tagsüber leben dürfen, vorausgesetzt, sie bleiben für alle Zeiten still, gehe an dem rötlichen Backstein und dem weißen Marmor des Palastes entlang und komme auf den großen Platz vor dem Haupteingang zwischen den erst später von Sabatini angebauten Flügeln. Hier fand 1808 der Aufstand statt, der das Ende des Leibgardisten Godoy und des königlichen Ehepaars bedeutete, das ihn bis zuletzt beschützt hatte und zusammen mit ihm aus dem Land gejagt wurde.
    Jetzt erinnere ich mich an die Stimmung in Versailles, im Escorial, in Schönbrunn. Wer in die königliche Sphäre eingedrungen ist, soll das auch merken. Hier werden Macht und Majestät demonstriert. Selbst jetzt, da die Könige verschwunden sind, als handelte es sich um eine ausgestorbene Tierart, sind die übersteigerten Dimensionen der Halle dazu bestimmt, den Besucher kleiner zu machen, fliegt das grandiose Treppenhaus von Giacomo Bonavía empor, doch die Füße des Volkes dürfen nochimmer nicht hinauf, sondern müssen hinter einem rotsamtenen Band warten.
    Ich sehe mir die farbigen Reproduktionen der Goya-Gemälde in meinem Reiseführer an, Karl IV . mit seiner ganzen Familie: der kräftig gebaute König mit weißen Kniestrümpfen und all seinen funkelnden Kreuzen, die dreifarbige Schärpe über dem stattlichen Bauch, die kleine gepuderte Perücke über dem Vollmondgesicht, die Brokateinfassung von Kragen und Manschetten, die hohen Busen der weiblichen Gesellschaft, und die Königin mit dem Kopf einer erschrockenen Truthenne und den üppigen Juwelen, auf die sie so versessen war, und hinten in der Ecke, links im Schatten, der Mann, der alles sah, der Maler, Goya, der Könige malen konnte, wie er das Volk malte, das Innere ihres Wesens ungeniert nach außen gekehrt.
    Ich bin kein König, also darf ich hier nicht langsam schreiten. Erst im Reiseführer sehe ich später, was ich eben mit hastigen Blicken gestreift habe: unendlich viel Gold und Leuchter,

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