Der Umweg nach Santiago
Deckenmalereien und Fresken, Boudoirs und Schlafzimmer, das Porzellanzimmer wie eine Rokoko-Tropfsteinhöhle, Spiegel, in denen das gesamte Universum verschwinden kann, ein arabisches Zimmer ohne Araber, ein sich zum Kampf rüstender David von Luca Giordano, Judith mit dem merkwürdig kleinen Kopf des Holofernes im Studierzimmer des Königs, der das Studieren nicht liebte, Intarsientische, karmesinrote Sofas, ein majestätischer Trödelladen – und hin und wieder ein Blick aus dem Fenster, um im Grün der Gärten Atem zu schöpfen.
Jeder Gegenstand für sich ist schön oder zumindest bemerkenswert, die Gesamtheit, multipliziert mit der Geschwindigkeit, ergibt ein Resultat von hysterischer Unwirklichkeit, als fächere die Vergangenheit sich hier in nicht benennbare kleine Teilchen auf, begleitet von der nasalen Stimme des Führers, dessen Worte im Kopf des Besuchers weiterschwirren.
Über den vierten Garten, den fünften Garten, den Brunnen des Apoll, den sechsten Garten und den chinesischen Teich, den siebten Garten, den achten sowie das Hexagon komme ich zurReal Casa del Labrador oder aber »Haus des Bauern« beziehungsweise Arbeiters, das genausowenig etwas mit Arbeiten zu tun hatte wie das Schäferinnenkostüm Marie Antoinettes mit einer echten Hirtin. Natur war in Mode gekommen, und so mußte Natürlichkeit vorgetäuscht werden. Lauben, trianons , bagatelles , oder: Wie man sich die Einfachheit vorstellt, und die sah dann, zumal in diesem Fall, wie unbeschreiblicher Luxus aus. Hier kann nur ein Landmann gewohnt haben mit Haar aus gesponnenem Silber, Nägeln aus Gold, Augen aus Onyx, Zähnen aus Elfenbein.
Es wurde zwischen 1791 und 1803 während der Regierungszeit Karls IV . erbaut, zu schnell, wie sich später an verschiedenen Konstruktionsfehlern zeigte. Juan de Villanueva und González Velázquez waren die Hauptarchitekten, J. D. Dugourc richtete es ein, daß es einen noch heute schwindelt. Wie immer hastet die Führung, als wüßten die Führer, daß kein menschliches Auge in diesem späten Jahrhundert soviel Glanz verkraftet. Allein beim Platinkabinett bräuchte man mehrere Stunden, um alle Details aufzunehmen. Seidene Draperien, im Billardzimmer die 93 Ansichten von Aranjuez, Wandteppiche und Reliefs – Allegorien von Krieg und Frieden, die den König und seinen »Friedensfürst« hätten warnen müssen, sich nicht mit dem italienischen General, danach Erstem Konsul, danach Kaiser einzulassen, der im neuen Jahrhundert von der anderen Seite der Pyrenäen sein begehrliches Auge auf Spanien hatte fallenlassen und der ihr Untergang werden sollte, zur höchsten Zufriedenheit von Karls Sohn, Ferdinand VII ., der nach der kurzen Regierung von Napoleons Bruder in diese Paläste zurückkehren durfte, um Spanien weiter herunterzuwirtschaften, ein Despot, der wie sein Vater seine Zeit nicht verstanden hatte.
Vielleicht ist dieses Arbeiterhaus der vollkommene Ausdruck dessen, was sich hier, ohne daß die Hauptakteure sich dessen bewußt waren, wirklich vollzog, denn es steht nicht nur am Ende all dieser Gärten, sondern auch am Ende einer Zeit. Das Ancien régime hatte ausgedient und war dabei, abzutreten. Einige Jahrespäter sollte die napoleonische Invasion Spanien mit einem Donnerschlag in eine neue Zeit jagen, in der es nach und nach alle seine Kolonien verlieren und dazu auch noch auf fatale Weise gegen sich selbst kämpfen sollte.
Die Sonne war endlich untergegangen, und der Besucher, der in die späte Glut hinausgeht, dreht sich um und blickt zu diesem Volk von Marmorgestalten an der vorderen Fassade und auf den Säulen des mächtigen Gitterzauns, schüttelt die königlichen Schatten von sich ab und geht zu dem griechischen Tempelchen unter den üppigen Bäumen, wo er in Gedanken den Hut vor seiner eigenen uneinigen, chaotischen, aber Gott sei Dank heutigen Zeit zieht.
2001
K ÖNIGE UND Z WERGE
Man hat sich an die Unwirtlichkeit dieser weiten, abweisenden Landschaften ohne Grün gewöhnt, an die unscheinbaren Dörfer in der menschenleeren Mittagshitze, die schweren, festungsartigen Kastelle, die in der Ferne aus dem Nichts auftauchen. Und dann kommt man plötzlich, zehn Kilometer von Segovia entfernt, zum Schloß und den Gärten von La Granja de San Ildefonso, dem Lustschloß, das sich der erste Bourbonenkönig aus Heimweh nach Versailles erbauen ließ. Vor dem spanischen Hintergrund wüstenartiger Trockenheit muten die meterhohen, wildspritzenden Fontänen ausschweifend an, die Lage am Fuße der
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