Der Umweg nach Santiago
Sierra de Guadarrama sorgt für nördliche Kühle, die Architektur des Lustschlosses – Barock, Rokoko – beißt sich mit der atavistischen Nüchternheit des Alcázar in Segovia und dem ebenfalls nahen schaurigen Escorial.
Ich habe keine Lust, den Palast zu betreten, und will nur in den Gärten spazieren. An diesem Tag ist es dort still, Geräusch von Wasser, Blättern, Vögeln. Die französischen Gartenarchitekten haben die Natur in ein rigides, verkniffenes Muster geometrischer Figuren gezwängt, haben gerade und rund gestutzte Ligusterhecken zu symmetrischen Schlachtordnungen formiert. So ließ der Geist einer Epoche sich mit Hilfe einer plötzlich rational gewordenen Gartenschere ausdrücken. Nur die Wasserstrahlen lassen sich nicht zwingen – der Wind fängt sie an ihrem höchsten Punkt ein und wirft sie in einem Vorhang durchsichtigen, glänzenden Schaums, wohin er will. Löwen und Pferde spritzen das nie versiegende Wasser in die Luft, beim Froschbrunnen sind die Strahlen gegeneinandergerichtet, beim Diana-Brunnen fällt es aus Riesenvasen über breite Marmorbecken herab und wird zu marmornem Wasser; wo man auch geht, ringsum rieselt, sickert, strömt, tröpfelt, flüstert es, es peitscht und kost sich selbst, baut sich auf zu einem Turm von fünfunddreißig Metern, der immer wieder von oben her einstürzt. Man hört es als großen, leidenschaftlichen Regen. Rosensträucher stehen wie geschorene dekadentePudel auf den Rasenflächen, geradlinige Wege führen an Marmorpokalen und mythologischen Gestalten vorbei. Wer hier einsam herumspaziert, hat das Gefühl, eine Kamera folge ihm, und ist froh, wenn er den Rand des Waldes erreicht, in dem er sich, unsichtbar, verlieren kann wie das Wild, das der leidenschaftliche Jäger Philipp V . verfolgte.
Philipp V ., Enkel Ludwigs XIV . Die Bourbonenlinie. Man kann die Dynastien auch wie eine Metrokarte sehen. Umsteigen auf Habsburg und zurückzählen: Karl II ., krank, epileptisch, schwachsinnig; Philipp IV ., von Geilheit besessen und daher (wie er glaubte) von Gott mit Niederlagen, Unglück und sterbenden Kindern gestraft; Philipp III ., schwach und wankelmütig; Philipp II ., »unser« König, der Mann, der ein Weltreich erbte und es nicht zusammenhalten konnte. Im wahrsten Sinne des Wortes wurmstichig und faulend starb er in seinem stickigen Kämmerchen im Escorial, dem von ihm erbauten Palast, der seine seltsame Seele widerspiegelt: Festung und Kloster, ein schroffes Viereck, errichtet nach dem Modell eines Rosts gleich demjenigen, auf dem der heilige Laurentius lebend geröstet wurde. Ich weiß noch gut, wie ich, vor Jahren schon, zum erstenmal in diesem Kämmerchen stand. Der rote Steinboden, der bestickte Brokatbaldachin am schmalen Bett beiseite geschoben, die Bettdecke, die einst blutrot gewesen sein mußte, jetzt aber fahl und lila aussah, das kleine Fenster, durch das er im Liegen die Messe in der angrenzenden Kapelle verfolgen konnte. Kahle Wände, nur bis zur halben Höhe gekachelt. Hier hatte er gelegen, wie eine Spinne im Netz. Von hier aus liefen unsichtbare Fäden bis in die entlegensten Winkel seines Weltreichs, hier wurde auch über unsere, die niederländische Geschichte entschieden. Ein grausamer Fürst, hatte ich in der Schule gelernt, der Mann, der uns einen ebenso grausamen Alba auf den Hals geschickt hatte, um uns zu knechten. Es hatte etwas Düsteres, dort zu stehen. Der Raum war niedrig, die Stühle im Raum nebenan ähnelten dem, auf den er sich auf dem Gemälde von Juan Pantoja de la Cruz mit der Hand stützt. Auf diesem Bild hält der König Handschuhe in der Hand,sein Schuhwerk, lange schwarze Stiefel, hat keine Absätze und sieht eher wie Strümpfe aus, die ihm bis über die mageren Knie reichen. Das linke Bein ist etwas vorgestellt und fängt ein wenig von dem Licht auf, das auch beim Rest der bedrückenden schwarzen Kleidung einen vagen, gelblichen Schimmer hervorruft. Die kleinen Hände kommen aus schmalen Spitzenmanschetten, der Kopf ist in eine ebenso schmale, enganliegende Kröse gebettet. Schlicht, mönchisch, unbeweglich ist diese Gestalt. Reglose Macht. Ein einziges goldenes Schmuckstück auf dem schwarzen Schild der Brust. Das Kinn steht vor, wie bei allen Habsburgern, wenngleich weniger stark als bei seinem Vater, dem Kaiser, die Ohren sind klein, das Haar seidig und fein wie Dachshaar, die Augen unter den geraden, zierlichen Augenbrauen schauen argwöhnisch, die nach unten gezwirbelte, buchstäblich herablassende Bahn des
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