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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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fast körperliches Gefühl der Vergeblichkeit. Alldiese Bücher, so willkürlich aufgeschlagen, die Bilder versiegelt, weggeschlossen, verboten, als der Mann jetzt die Tür hinter mir schließt, weg, verschwunden.
    In einem anderen Raum schmettern laute spanische Knabenstimmen Ave Marias, eine noch nicht ganz verlorengegangene Instanz in mir singt wortlos mit. Wir durchqueren die drei Schiffe der Kirche, ich sehe die Fahnen aller lateinamerikanischen Länder, die achteckige Kuppel über mir, das reiche Gitterwerk des Chors, das glänzende Chorgestühl mit den wildbewegten Schnitzereien, den skulptierten polychromen Hochaltar, geschaffen vom Sohn El Grecos, den Renaissanceschreibtisch Philipps II ., der in den Altar eingefügt ist, und dann, darüber, in der Mitte, sie – mit ihrem schwarzen Gesicht, das Götzenbild, die Große Mutter, von Kopf bis Fuß beschuht, bekleidet, behängt, voll von Diamanten, Perlen, Gold, alle Blicke auf sich ziehend, elektrisch angestrahlt, zwischen zwei korinthischen Säulen sitzend. Später kann ich die Figur besser sehen. Ob sie sitzt oder steht, ist nicht mehr auszumachen, denn ein weit wallender Umhang hängt ihr bis über die Füße, und es scheint, als habe die alte, zweifellos schlichte romanische Skulptur aus dem zwölften oder dreizehnten Jahrhundert sich dahinter zurückgezogen. Nur das schwarze Gesicht, fast verborgen, ist hinter einem Doppelhufeisen aus Perlen zu sehen, über dem eine übergroße edelsteinbesetzte Krone schwebt. Das rechte Auge scheint wegzugleiten, das andere starrt mit einem eher nach innen gerichteten Blick vor sich hin. Gerade Nase, kleiner Mund, eine erstarrte schwarze Hand, die aus einer Öffnung im Kleid gekrochen kommt und mit aneinandergepreßten Fingern ein glänzendes goldenes Szepter hält. Der Führer winkt, und mit einem Dutzend zögernder Spanier gehe ich 42 Stufen aus rotem Jaspis hinauf und komme in einen kleinen übervollen Raum, den camarín (kleine Kammer), in dem das Götzenbild zwischen alttestamentarischen Vorgängerinnen, den Starken Frauen Judith, Rahel, Abigail, bekleidet, verkleidet, umgekleidet wird.
    Doch nun geschieht etwas Eigenartiges. Der Führer hat sich zurückgezogenund ist von einem Mönch abgelöst worden. Wir stehen dicht gedrängt in dieser kleinen, das Auge betäubenden Schatzkammer von der Form eines griechischen Kreuzes, umringt von den Starken Frauen unter umgedrehten stilisierten Jakobsmuscheln, umringt von Giordanos fließenden Bildern, die die Höhepunkte in Marias Leben darstellen, Augenblicke aus einem Mythos, der seine Selbstverständlichkeit verloren hat. Nicht für die Gruppe, die mich umgibt, ein paar Nonnen, ein paar ältere Leute, einen kleinen Jungen. Sie warten, weiß ich heute, auf den Moment des großen Tricks, aber es ist noch nicht so weit. Der Mönch, ein älterer Mann, konzentriert seine Aufmerksamkeit ganz auf den Jungen, alle anderen bleiben ausgeschlossen, nur ihm erzählt er die Geschichte. Das Kind wird nicht im geringsten verlegen. Die weiße Hand, die aus dem weiten Ärmel der braunen Kutte kommt, ruht auf seiner Schulter und lenkt es zu den Skulpturen und Gemälden, die Stimme erzählt Geschichten und spricht von Königen, Schätzen, Edelsteinen, Künstlern. Eine vollendete Geschichte, wie der Apostel Lukas diese Figur geschaffen hat, wie sie im Nebel der Zeit verlorenging, wie ein Hirte sie im vierzehnten Jahrhundert wieder auffand, nachdem eine Kuh zum Leben erwacht war, die bereits tot an einem Bach gelegen hatte, wie die Jungfrau dem Hirten erschien und wie König Alfons X . davon hörte und ihr ein Heiligtum errichten wollte, wie sie dann die Jungfrau der Hispanidad (alles Spanischen) wurde, welche Wunder sie verrichtete und wer ihr diese immer schöneren, immer reicheren, mit Edelsteinen verzierten Umhänge schenkte, die sie an hohen Festtagen trägt. Und dann, eigentlich noch während er spricht, hat er zwei goldene Türchen mit Emailbildern geöffnet, und während wir staunend auf das bestickte Gewand und den Rücken der Figur und hinter ihr in die Kirche hinunterblicken, drückt er auf einen unsichtbaren Knopf, und langsam, unter leisem Summen, dreht sich die Figur und schaut uns an, plötzlich beängstigend nah. In der Kirche sieht man jetzt nur ihren Rücken, denke ich, und schaue auf meine Uhr, um diesen Moment auch einmal untenvon der Kirche aus mitzuerleben, zu sehen, wie eine Figur hoch über dem Altar sich zur Bestürzung der Gläubigen plötzlich abwendet. Aber auch da,

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