Der Umweg
auf, ging zu ihr hin und leckte ihre Hand. Sie fing an zu weinen.
Der Junge blieb sitzen. »Wein doch nicht«, sagte er. »Ich weiß ja nicht, warum du weinst, und wenn ich fragen würde, würdest du ›ach‹ sagen, das wär also witzlos. Aber wein nicht.«
»Nein«, sagte sie und zog die Nase hoch.
»Wenn du von Caernarfon zurück bist, was auch immer du da zu tun hast, ist der Weihnachtsbaum fertig und im Wohnzimmer der Ofen an. Ich gehe gleich nach Waunfawr, dann haben wir auch frisches Brot. Essen interessiert dich zwar nicht, aber es ist dann wenigstens etwas da. Und ich rufe nicht meine Eltern an, ich rufe niemanden an, ich bin jetzt hier. Heute nachmittag um Viertel nach fünf setzt du dich aufs Sofa und schaltest den Fernseher ein, es kommt Escape to the Country , und in der Zeit koche ich. Fisch. Den ißt du, du trinkst zwei oder drei Gläser Wein dazu, und nach dem Essen könnten wir zusammen einen Garten zeichnen oder einen Film sehen. Die BBC bringt um Weihnachten herum immer schöne Filme. Danach gehst du ins Bett; wenn du willst, zünde ich eine Stunde vorher auch den Kamin in deinem Schlafzimmer an. Ich kann jederzeit mit dem Wagen und dem Anhänger irgendwo neues Holz holen. Ich kann es auch bezahlen. Sam und ich liegen zwei Türen weiter. Wir sind hier. Wir warten auf das Lamm, das dieser Bauer, Rhys Jones, dir versprochen hat.«
Sie setzte sich. »Ja«, sagte sie. »Das Lamm. Er war gestern hier.«
»Hab ich gesehen.«
»Er hat den Schafen Heu gebracht.«
»Hab ich auch gesehen.«
»Ich denke immer, du bist ein Turner.«
»Was?«
»Ein Turner, ein Bodenturner.«
»Das hat noch nie jemand gesagt.«
»Wenn du gehst, wenn du sitzt, beim Sägen oder beim Umgraben.« Sie hätte sich gern eine neue Zigarette angezündet, sah aber davon ab, weil sie die dann auch hätte aufrauchen müssen, und jetzt wollte sie ins Bad. Ins Bad und anschließend wegfahren. Sie stand auf. »Du sagst sehr oft ›wir‹«, sagte sie.
»Weil wir hier zusammen sind.«
»Ich glaube, deshalb mußte ich weinen.«
»Du lügst.«
»Ja.« Sie verließ die Küche. Im Badezimmer drückte sie die letzten drei Schmerztabletten aus dem Streifen und nahm sie mit ein paar Schlucken kaltem Wasser ein.
Sie fuhr sehr langsam, auf den schmalen Nebenstraßen war nicht gestreut, und wenn es bergab ging, packte sie das Lenkrad fest mit beiden Händen. Die zweispurige Straße nach Caernarfon war zwar gestreut, aber auch hier fuhren die wenigen Autos gemächlich, alle schienen damit zu rechnen, daß es jeden Moment wieder schneien konnte. Ich darf mich nicht in dieser Geborgenheit suhlen, dachte sie. Mich hinterm Ofen verkriechen. Zusehen, wie er alles in die Hand nimmt. Mich vom Hund ablecken lassen. Sie stellte den Wagen in einer Parkbucht ab und stieg aus, ohne die Jacke anzuziehen. Mühsam kletterte sie über einen Zaun, stapfte ein gutes Stück durch den Schnee und drehte sich dann um. Sie schaute auf ihre Fußspuren und zum Auto hinüber, sie fröstelte. Das ist alles, dachte sie. So sieht es aus. Ihre Schuhe waren naß, ihre Zehen kalt. Ein leeres Auto am Straßenrand, kahle Bäume und Hügel, Kälte. Ein Dachs, der sich nicht mehr blicken läßt; ein Teich, dessen Wasser mir bis zur Taille reicht, keine schweren Gegenstände in meinen Taschen. Der Geruch nach altem Weib in meinem Leib. Das ist alles. So sieht es aus.
42
Wie beim ersten Mal war kein Mensch im Wartezimmer, das direkt hinter der Haustür lag. Es gab keine Arzthelferin; eine Glocke über der Tür meldete, wenn jemand eintrat. Sie setzte sich auf einen der vier Stühle und wartete ab. Nach fünf Minuten war sie immer noch nicht ins Sprechzimmer gerufen worden, sie zündete sich eine Zigarette an. Sie hörte keine Stimmen hinter der Tür, hin und wieder kamen Leute am Fenster vorbei und schauten neugierig herein. Auf einem Tischchen mit Resopalplatte stand ein sauberer Aschenbecher neben einem Stapel Zeitschriften.
»Ah, die Dachsfrau.«
Sie blickte auf und seufzte.
»Nicht gleich eingeschnappt sein«, sagte der Arzt. » I’m just kidding . Komm rein.«
Auf seinem Schreibtisch lag nichts, keine Papiere, mit denen er sich beschäftigt haben konnte. Weil sie schon so daran gewöhnt war, daß hier fast überall geraucht wurde, hatte sie ihre Zigarette nicht im Wartezimmer ausgedrückt. Sie tat es jetzt in seinem halbvollen Aschenbecher. Dann warf sie einen Blick auf das Kreuz, das jemand geradegehängt hatte.
»Dein Haar sieht gut aus. Nur etwas
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