Der Umweg
der Junge gestern vormittag gesagt hatte. Sie hatte es gehört, war aber einfach nicht darauf eingegangen. Im Laden kaufte sie die Mütze, ließ sie in Geschenkpapier einpacken. Der Verkäufer hantierte ungeschickt mit einer Tesafilmrolle. Ihr wurde warm, im rechten Bein fühlte sie einen Muskel zittern. Die Mütze war teuer. Was soll’s, dachte sie, darüber brauche ich mir keine Gedanken zu machen. »Auf Wiedersehen«, sagte sie zu dem Verkäufer. Er schaute sie verdutzt an. Erst auf dem Gehweg dämmerte ihr, warum: Sie mußte sich wohl auf niederländisch verabschiedet haben, dabei hätte sie schwören können, daß sie » Goodbye « gesagt hatte. Die Uhr am alten Stadttor zeigte Viertel nach elf.
43
Der Junge war nicht zu Hause. Sie legte die Mütze unter den Weihnachtsbaum, der reichlich mit Girlanden und Kugeln behängt in der Ecke neben dem Büfett stand, die Lichter waren eingeschaltet. Bradwen hatte ihn in eine Zinkwanne gestellt, eine Ladung Schiefersplitt sorgte für Standfestigkeit. Sie ging die Treppe hinauf und öffnete die Badezimmertür. Dann stapelte sie die Medikamentenschachteln auf der Ablage über dem Waschbecken und nahm sofort eine Tablette ein, ohne den Beipackzettel zu lesen. Dem Arzt war es nicht auf eine Schachtel mehr oder weniger angekommen. Die Röllchen mit Hustenpastillen lagen auch hier, ungeöffnet. Sie setzte sich auf die Toilette. Ein Krampf, den sie schon im Auto gefühlt hatte, kehrte wieder. Und wieder. Wenn sie glaubte, es wäre vorbei, und die Hand zum Toilettenpapier ausstreckte, fing es von neuem an. »Jaja«, sagte sie leise. Und wartete, die Ellbogen auf den Knien, den Kopf zum Fliesenboden hin gesenkt. Nachdem sie sich abgewischt hatte, ließ sie zum zweiten Mal an diesem Tag die Wanne vollaufen, auch diesmal mit einem ordentlichen Schuß Native Herbs . Ein scharfer Geruch. Ein natürlicher Geruch. Sie zog sich aus und setzte sich ins heiße Wasser. Dachte an den Monolog des Jungen, an alles, was er aufgezählt hatte, ohne Stocken, als habe er vorher darüber nachgedacht, als stecke ein Plan dahinter. Versuchte die Wirkung der Tablette in ihrem Körper zu spüren, indem sie sich vorstellte, wie die Wirkstoffe vom Magen her ihre Wanderung durch die Gefäße begannen und hoffentlich bald in ihrem Kopf ankamen. Als eine angenehme Trägheit von ihrem Körper Besitz ergriff, fiel ihr ein, daß schon sehr bald der 1. Januar sein würde.
» Hello! « Das war nicht Bradwen – was sie aber nur daran hören konnte, daß er aus dem Gruß eine Frage gemacht hätte. Rhys Jones. Schon im Haus, und sie in der Wanne. Der Haustür gegenüber war die Treppe, so etwas lud Besucher dazu ein, gleich nach oben zu gehen. Sie mußte aus der Wanne, die Tür war nicht abgeschlossen. Das Wasser schwappte laut. Sie spürte die Wirkung der Tablette; es war ihr Körper, der aus dem Bad stieg, aber die Empfindung stellte sich um den Bruchteil einer Sekunde verzögert ein. Sie hatte kein Auto kommen hören. Sie nahm das Handtuch vom Türhaken, drückte es auf ihre Brüste. Es klopfte, ziemlich laut. » Go away «, sagte sie. In der Stille, die folgte, näherte sie ihren Kopf der Tür. Sie glaubte ihn atmen zu hören, und gleichzeitig hörte sie die Frau des Bäckers etwas sagen. Und wenn sie noch leben würde, hätte sie ihn nie soviel Torte essen lassen . Sie wünschte sich, jetzt in der Bäckerei zu sein, vollständig angezogen, Bergschuhe an den Füßen. Das Badewasser wogte noch leicht, es war sehr klar.
»Ich warte in der Küche.«
Sie prallte zurück, seine Stimme ließ das Holz vibrieren. Sie hörte ihn die Treppe hinuntergehen. Den Stöpsel ließ sie in der Wanne, das Gurgeln des ablaufenden Wassers wäre viel zu laut gewesen. Langsam trocknete sie sich ab, ebenso langsam zog sie sich an. Bauchkrämpfe ohne wirklichen Schmerz, kein Druck hinter den Ohren, ein dumpfes Gefühl im Kopf. Bevor sie die Tür öffnete, schaute sie durch das kleine Fenster auf den schneebedeckten Zufahrtsweg hinunter. Wo blieb Bradwen? Die Gänse standen zusammengedrängt vor dem Häuschen. Davor, nie darin, nicht ein einziges Mal. Blöde Viecher.
Rhys Jones saß auf dem Küchenstuhl, der dem Weihnachtsbaum am nächsten war, die eingepackte Mütze in den Händen. Er kam ihr irgendwie fremd vor, etwas an ihm war anders als sonst.
»Was machen Sie da?« fragte sie.
»Ich nehme an, du legst nicht für dich selbst Päckchen unter den Weihnachtsbaum.«
»Und?«
»Ich habe gerade überlegt, daß du dies wohl für
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