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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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nicht angerührt hatten.
    Aramon hatte sich gezwungen, den Kofferraum zu öffnen, doch da war nichts außer einem Fernglas, einem zerdrückten Hut und einer Kühltasche mitsamt Wasserflasche. Er schloss und verriegelte den Wagen mitsamt Sandwich, weil er es nicht über sich brachte, es anzufassen. Er rief die drei Hunde und ging mit ihnen hinaus in die Sonne. Der Wagenschlüssel steckte in seiner Tasche.
    Was ihn jetzt beschäftigte, während er seinen Pastis trank, war die Frage, wie sich das Auto aus der Welt schaffen ließ.
    Er hatte jede Menge alter Filme im Fernsehen gesehen, in denen Menschen Autos von Klippen stießen, sie in Brand steckten oder in einem See versenkten. Und immer kam irgendwann ein verkohltes oder verbeultes Fahrzeug ans Tageslicht. Diese Filmszenen waren einfach deshalb so aufregend, weil man wusste, egal was die Mörder anstellten, am Ende wurden die Autos doch gefunden.
    Mörder.
    War er einer von ihnen?
    Aramon wusste, dass die Beseitigung des Autos über seine Kräfte ging. Er war zu schwach, zu krank, um sich irgendeine Taktik auszudenken. Er wusste, es würde einfach weiter in der Scheune stehen. Es würde sich nicht von dort wegbewegen. Er würde Stroh darum herum stapeln, damit man es nicht mehr sah. Er würde ein starkes Vorhängeschloss am Scheunentor anbringen. Mehr konnte er nicht tun.
    Mit unsicheren Beinen vom Pastis stieg er die Treppe hinauf. Er ging in das Zimmer, das einst Audrun gehört hatte und das weder er noch sie seither betreten hatte. Die Fensterläden waren geschlossen, und es war kalt darin. Aramon holte den Wagenschlüssel aus seiner Tasche und stopfte ihn unter Audruns Matratze.

A udrun begann, die Pegelstände des Flusses zu messen.
    Sie verließ das Haus bei Tagesanbruch, wenn das Tal noch in tiefem Schatten lag.
    Sie brauchte keinen gekerbten Stock, auch kein Seil mit Knoten; sie maß mit den Augen. Sie erinnerte sich, dass Raoul Molezon einmal gesagt hatte: »Der Wind saugt das Wasser auf. Besonders der Mistral. Er hat Durst auf den Fluss.« Audruns Herz raste, als sie sah, wie schnell der Wasserpegel sank.
    Sie sah die Wetterberichte im Fernsehen. Sie sah die in Rot angegebenen Temperaturen: 38°, 39°, 41° … Eine Hitze, in der Menschen starben. Sie erstickten in luftlosen Wohnungen oder bekamen einen Sonnenstich, sie gingen an Dehydrierung zugrunde oder verbrannten bei Waldbränden, wenn sie ihre Tiere oder ihren Besitz zu retten suchten. Kein Ende der Hitzewelle abzusehen, sagten die Meteorologen. Kein Ende der Wasserknappheit abzusehen, trotz des feuchten Frühlings. Sämtlicher Urlaub für die Feuerwehrmänner der Region gestrichen, Brandbekämpfungsflugzeuge zu vierundzwanzig Stunden Bereitschaftsdienst verpflichtet. Inferno in den Cevennen befürchtet.
    Inferno befürchtet.
    Fünfzehn Jahre lang – bis es endete, bis Serge es durch seinen Tod beendete – hatte ein Inferno in Audrun gewütet. Fünfzehn Jahre lang. Unter Qualen war ihre Jugend in ihr verbrannt, ohne dass sie jemandem davon erzählen konnte, ohne dass jemand sie rettete. Nicht einmal Raoul Molezon. Denn wie sollte sie ihm – überhaupt irgendeinem Mann – von jener Schande erzählen, jener Brandmarkung ? Sie konnte es nicht. Nicht einmal dann, als Raoul an jenem Tag draußen vor der Fabrik auf sie gewartet, ihr regelrecht den Hof gemacht hatte, indem er jenes Glas sirop de pêche für sie bestellte und dann sein Bier trank und sagte, wie schön sie sei. Sie spürte damals, dass sie ihn liebte,aber sie war entehrt, beschämt durch das, was geschehen war, und hätte nie gewagt, ihm ihr Herz zu offenbaren.
    Zieh den Strumpfhalter an, Audrun.
    Wie süß, da guckt ein bisschen von deiner Möse hervor.
    Sieh mal, was das bei mir macht! Siehst du das?
    Bei deinem Bruder genauso. Wird dick wie eine Schlange, was?
    Wir können nichts dafür. Es ist deine Schuld, weil du so bist, wie du bist.
    Sie dachte, Raoul liebe sie. An jenem Tag schien er sie mit seinen sanften braunen Augen zu streicheln. Sie sehnte sich danach, sein Haar zu berühren, seinen Mund. Aber sie wusste, dass es unmöglich war. Alles war unmöglich, und deshalb hatte sie zu ihm sagen müssen: »Komm mich nie wieder abholen, Raoul. Es ist besser, wenn du es nicht tust.«
    Und er machte ein so trauriges Gesicht, dass es kaum auszuhalten war.
    Es ist deine Schuld, weil du so bist, wie du bist.
     
    Vor ihrem Tor hielt ein Auto. Sie stand gerade an ihrem Küchenfenster, schälte weiße Zwiebeln für ihr Abendessen und sah

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