Der unausweichliche Tag - Roman
Tasche ihres Kittels. Sie geht ruhig die Auffahrt hinauf und überrascht Verey. Er ist ein nervöser Mann, das merkt sie sofort. Er erinnert sie an eine lange, schlaffe Gliederpuppe.
Sie stellt sich als Aramons Schwester vor, Besitzerin der Kate. Er bedenkt sie mit einem verächtlichen Blick (»die Besitzerin der Kate … die ich doch beseitigen werde …«), dann fällt ihm ein, dass er höflich sein muss, also schüttelt er ihr die Hand. Er erklärt, er sei gekommen, um das Mas noch einmal zu besichtigen. Er zeigt auf das Land ringsum. »Es ist wunderschön«, sagte er. »Und ich liebe die Stille hier.«
Sie öffnet die Tür des Mas und bittet ihn hinein. Er wandert langsam durch das ganze Haus. Besonders oft wandert sein Blick zu den Balken der hohen Decken. Sie folgt ihm schweigend von Zimmer zu Zimmer, beobachtet jede seiner Bewegungen. Sie weiß, dass er sich im Geiste schon als Besitzer des Mas Lunel sieht, und sie denkt, wenn Bernadette hier wäre, würde sie ihr gewinnendes Lächeln lächeln und sehr ruhig zu ihm sagen: »Nein, tut mir leid, Monsieur, aber ich fürchte, Sie irren sich. Dies ist mein Haus.«
Sie gehen in Audruns altes Zimmer. Audrun zögert, bleibt in der Tür stehen. Verey öffnet die Fensterläden weit, Sonnenlicht flutet ins Zimmer und fällt auf Audruns Bett und auf die Kommode, in der sie einst die widerlichen Hüfthalter unter ihrer eigenen traurigen Kleidung versteckt hielt.
Verey öffnet das Fenster und lehnt sich hinaus. Er hebt die Arme, als wollte er die Aussicht auf das Tal umarmen. Dann dreht er sich zu Audrun um und sagt in seinem unbeholfenen Französisch: »Wenn ich das Haus kaufe … was ich, denke ich, tun werde … würden Sie für mich arbeiten? Ich werde jemanden brauchen, der alles sauber hält …«
Sie starrt ihn an, starrt diesen Fremden in ihrem Zimmer an. Sie stellt sich vor, wie sie auf Händen und Knien für ihn die Böden schrubbt, so lange für ihn arbeitet, bis sie zu alt für jede Arbeit ist; wie sie erschöpft in ihrer Kate liegt, weggesperrt hinter der Mauer, die dieser Mann errichtet hat, um sie nicht sehen zu müssen. Und jetzt kommt sie plötzlich auf sie zu – und sie hat immer gewusst, dass sie eines Tages kommen würde – die Idee, die ihr die Freiheit schenken wird.
Audrun und Verey sind nun schon auf dem Weg zum Fluss. Sie kommen nur langsam voran, weil Verey offensichtlich sehr unsicher auf dem unkrautüberwucherten Boden geht. Grashüpfer springen um ihre Füße, und er versucht vergebens, sie mit einem kaputten Stock wegzuwedeln.
Audrun hat Aramons Flinte über der Schulter hängen.
Beim Verlassen des Hauses hatte sie die Gummihandschuhe aus ihrer Kitteltasche geholt und angezogen und dann die Flinte vom Bord genommen. Vorsichtig hatte sie zwei Patronen in die Kammer eingelegt, hatte bewundert, wie perfekt sie hineinpassten.
»Reiher«, sagte sie, als sie die Flinte schulterte.
»Reiher?«, fragte Verey.
»Ja«, erwiderte sie. »Teufelsvögel nennen wir sie.«
Sie wusste nicht, ob dieser Engländer alles verstand, was sie sagte, aber sie fand, dass das im Grunde nicht so wichtig war.
»Es gibt noch Fische im Fluss«, fuhr sie fort. »Forellen und Äschen. Als ich klein war, haben wir eine Menge Flussfische gegessen. Aber heutzutage sind die Sommer zu trocken. Die Fische sterben im flachen Wasser, weil sie nicht genug Sauerstoff bekommen, und dann holen die Reiher sie. Sie sind wie die Geier. Die Reiher stehen einfach da und warten und stoßen zu. Sie holen sich alles, was es noch an Fischen im Gardon gibt. Deshalb müssen sie gekeult werden.«
»Gekeult?«, fragte Verey.
»Getötet«, erwiderte sie.
»Ah ja. Verstehe.«
»Wenn wir bis zum Fluss hinunter gehen«, sagte sie, »nehmen wir immer ein Gewehr mit.«
Als sie mit Verey aus dem Mas in die Sonne hinausgetreten war, hatte sie vorsichtig nach links gespäht, zu dem Weg, der in die Weinterrassen führte – ob Aramon womöglich beschlossen hatte, die Arbeit zu beenden, und nun zum Haus zurückkehrte. Aber es war nichts von ihm zu sehen. Noch vor Kurzem, als ersich wieder einmal mit seinen Weinstöcken abplagte, hatte er Audrun an das alte Märchen erinnert, in dem jemand aus Stroh Gold spinnen will. Und mit einem Mal hatte sie den furchtbaren Pakt begriffen, den er zu schließen versuchte: Wenn Verey das Mas kaufte, würde ihr Bruder sich nie mehr mit den Weinstöcken herumschlagen müssen, besser gesagt, mit gar nichts mehr; er bekäme so viel Gold, wie er sich nur
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