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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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mussten sie ungefähr eine halbe Stunde in der Schlange stehen.
    In dieser Zeit schrieb Banow direkt auf das Paket die Adresse: „Moskau. Kreml. Für Iljitsch“ und wartete voller Ungeduld, ob die Postangestellte, die die Päckchen entgegennahm, irgendetwas sagen würde.
    Endlich war die Reihe an ihnen, und der Schuldirektor schob sein Paket durch das Fenster.
    „Iljitsch, ist das der Vor- oder Nachname?“, fragte die Angestellte der Päckchenannahme.
    „Der Nachname“, stieß Banow hervor und verstand sofort, dass er nicht das Richtige gesagt hatte, die Frau stellte jedoch keine weiteren Fragen mehr, und Banow beschloss zu schweigen.
    „Vermerken Sie den Absender!“ Die Frau, die hinter dem Fenster arbeitete, schob das Paket zurück.
    Banow holte seinen Federhalter heraus, kritzelte rasch seine Adresse auf das Paket und gab es ihr zurück.
    „Vierzig Kopeken“, sagte sie.
    „So viel?“, staunte Banow laut. „Haben Sie sich da nicht geirrt?“
    „Nein, ich habe mich nicht geirrt!“, antwortete die Frau barsch. „Ich arbeite schon seit zehn Jahren hier!“
    Banow bezahlte hastig.
    Auf der Straße seufzte er tief und sah erneut liebevoll Klara an. Er stellte sich vor, wie der Kremlträumer sich freuen würde, wenn er ganz unerwartet in einem der Pakete einen Anzug von passender Größe fand. Er stellte sich vor, wie er ihn anzog, sich betrachtete – ob er wohl einen Spiegel in seiner Laubhütte hatte? –, na, auf jeden Fall würde er seine Hosen betrachten, das Sakko, die Weste … Ja! Ganz gewiss wäre er glücklich und niemals würde er erraten, dass eine Frau ihm dieses Glück geschenkt hatte. Eine Frau mit Namen Klara Rojd. Das würde ein Geheimnis für ihn bleiben …
    Hier dachte Banow darüber nach, dass jeden Tag Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Geheimnissen geboren wurden und dass sie sozusagen unabhängig von den Menschen existierten und selbst nach ihrem Tode noch weiterlebten. Nur manche von ihnen wurden zufällig offenbart, alle übrigen schwebten sozusagen in der Luft, lösten sich in ihr auf, und die Menschen atmeten sie ein und aus, ohne es zu ahnen. Und fast alle Geheimnisse blieben auf ewig geheim.

    ***

    Längst war der einsame Friedhofsbaum hinter ihnen zurückgeblieben, war inmitten der reglosen Schneemassen erstarrt.
    Die schweigsamen Schlittenhunde eilten dahin, und die Kufen knirschten leise, während sie auf das weiße Blatt aus Schnee zwei feine Linien zeichneten.
    Dmitrij Waplachow saß vorne, und hinter ihm, einge­wickelt in die ihnen nach der Bestattung noch verbliebenen Rentierfelle, schlummerte der Volkskontrolleur.
    Ein weiterer vereinzelter Baum flog vorbei und blieb links vom Schlitten zurück.
    Vor ihnen lag die unkenntliche Grenze zwischen dem Schnee und dem ebenso weißen Himmel.
    Waplachow hatte Hunger, und um sich von dem Hungergefühl abzulenken, sann er über sein verschwundenes Volk nach. Er begann sein Volk mit dem russischen zu vergleichen, um etwas zu finden, worauf er den Russen gegenüber stolz sein konnte. Nicht um sich zu brüsten, natürlich, sondern nur so, in Gedanken. Denn kürzlich hatte der Russe Dobrynin ja gesagt, dass man auf sein Volk stolz sein musste. Doch so sehr Dmitrij auch verglich, er sah keinen besonderen Unterschied zwischen Russen und Urku-Jemzen. Unterschiede gab es wohl, doch keinen besonderen und keinen wichtigen. Beide Völker waren klug und schön … Nur gab es von den Urku-Jemzen natürlich zu wenige, und sie hatten weder Städte, noch Häuser. Sie zogen über die Erde und suchten schon seit Jahren das Glück … Da überkam Waplachow anstelle des Stolzes ein Gefühl der Scham. Er begriff plötzlich, dass die Russen schon längst nicht mehr unterwegs waren, sie lebten zufrieden in Häusern, also hatten sie ihr Glück schon gefunden. Wenn sie das Glück aber gefunden hatten, und die Urku-Jemzen noch immer suchten, dann waren die Russen also doch klüger. Der Gedanke bedrückte Dmitrij. Er dachte nun wieder ans Essen, um sich von den Urku-Jemzen abzulenken, und leckte sich die Lippen in der Kälte, als er sich etwas Essbares vorstellte. Da erblickte er links vorne Rauch, der als Säule zum Himmel aufstieg. Der Rauch kam hinter einem Hügel hervor, und der Urku-Jemze freute sich. Er trieb die Hunde an, vorwärts, dorthin. ‚Wahrscheinlich Jäger‘, dachte er. ‚Oder Soldaten …‘ Und entschied sofort, dass Soldaten besser als Jäger waren: Sie waren freundlicher, gaben einem auch mehr zu essen, sie hatten gleichsam

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