Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
Vom Netzwerk:
ging.
    „Sie heißen alle ‚Lenin für Kinder‘, dabei gibt es in verschiedenen Büchern verschiedene Geschichten. Sehr lehrreiche. Kürzlich habe ich so eine kurze Erzählung gelesen … Auch irgendwie über Anstand und Ehrlichkeit …“
    Wieder seufzte Kalatschew tief, weil er die Worte ‚Anstand und Ehrlichkeit‘ als Anklage an seine Adresse auffasste.
    „Und …?“, sagte Goroschko mit einem Schluckauf. „Lies vor!“
    Dobrynin zog seinen Reisesack hervor, legte seine Waffe mit dem eingravierten Namen hinein und holte ein Buch heraus. Er setzte sich an die Tischkiste, blätterte darin und suchte die richtige Seite.
    „Ah, da ist es!“, sagte er, als er es gefunden hatte. „Soll ich vorlesen?“
    Die Geologen nickten.
    „Sie heißt ‚Wie Lenin einen Bedrücker der Bauern be­strafte‘.“

    Lenin hatte einen Freund und Genossen, es war wohl der beste von allen – ein Kommissar der Nahrungsumverteilung. Da sagte man Lenin, dass dieser sein Freund die Bauern beraubte und nicht anständig lebte, das Gut des Volkes nicht achtete. Da rief Lenin ihn zu sich und sagte: „Mein lieber Freund, ist das wahr?“ Und jener schwieg und senkte den Kopf. Und Lenin sagte zu ihm: „Den Bauern nieder zu drücken hast du kein Recht. Denn der Bauer ist eine große Kraft im Staat, von ihm kommt alles Brot. Deshalb, als meinen Freund, muss ich dich beispielhaft bestrafen.“ Lenin küsste diesen Freund, nahm Abschied von ihm, wandte sich ab und befahl ihn zu erschießen. So ein Mann ist Lenin. Er liebte die Gerechtigkeit.

    Als er ausgelesen hatte, blickte Dobrynin die um den Tisch Sitzenden an. Alle, selbst der Funker Goroschko, wirkten nachdenklich und ernst. Alle dachten über das Gehörte nach.
    „Eine gute Geschichte“, sagte Kalatschew und nickte. „Sie ist richtig. Und du, Genosse Dobrynin, hast natürlich alles richtig, auf Leninsche Weise gemacht. Jetzt warten wir zusammen auf den Zug.“
    Dobrynin nickte. Er fühlte, dass ihm diese Geschichte zur rechten Zeit eingefallen war und er sie zur rechten Zeit vorgelesen hatte. Am Ende hatte Lenin ihn gleichsam selbst verteidigt. Die Anspannung war abgefallen.
    Dujew wollte wieder losschnarchen, aber Goroschko stieß ihn heftig an.
    „Gibt es dort noch so eine Geschichte?“, fragte plötzlich Stepan Chramow.
    „Da gibt es viele verschiedene“, antwortete Dobrynin, während er in dem Buch blätterte.
    „Dann lesen Sie noch etwas vor!“, bat Stepan.
    Dobrynin blickte fragend zu Kalatschew, um zu sehen, ob auch der Leiter der Expedition noch eine Geschichte hören wollte.
    Kalatschew nickte freundschaftlich, und da wandte der Volkskontrolleur seinen Blick den Buchseiten zu. Er überlegte, welche Geschichte er vorlesen sollte, damit sie einen zweifachen Nutzen brächte: damit sie sowohl lehrreich wäre, als auch der aufkeimenden Freundschaft zwischen dem Volkskontrolleur Dobrynin und den Geologen der Expedition dienlich.

Kapitel 6
    Als aus dem dichten Nebel Linien auftauchten, Konturen, weiße Wände und die Kopfenden von Nachbarbetten in einem Lazarettzimmer, erkannte Mark Iwanow, dass dies kein Traum und kein Wahn mehr war. Er erkannte, dass er lebte. Er drehte sogar den Kopf zur Seite und erblickte ein paar verwundete Kämpfer. Dem einen hatte man den Kopf verbunden, dem anderen die Hände, die auf seiner Bettdecke lagen.
    Gern hätte Mark etwas gesagt, doch nur unartikulierte, unverständliche Laute entfuhren seinem Mund.
    „Tanja! Tanjuscha!“, rief der Kämpfer aus dem Nachbarbett da. „Der Künstler ist aufgewacht! Komm her!“
    Tanja, eine magere kleine Krankenschwester im oft ge­waschenen Kittel, beugte sich lächelnd über ihn. Aufmerksam sah sie in Marks geöffnete Augen.
    Wieder versuchte er etwas zu sagen. Er strengte sich an. Und wieder wurde ihm unerträglich heiß, und die Züge des lieben Frauengesichts, das sich über ihn beugte, begannen zu verschwimmen und sich in dem Nebel aufzulösen, der erneut vor seinen Augen aufstieg.
    „Es ist noch zu früh zum Sprechen für Sie, Genosse Iwanow! Sie sind noch sehr schwach!“
    Ihre Stimme verschwand und entfernte sich im Nebel.
    Zwei Tage später kehrte Marks Bewusstsein aufs Neue zurück, und diesmal, so schien es, für lange.
    Eine ganze Weile blickte er an die Decke und gewöhnte sich an das Weiß, dann schielte er nach rechts und links.
    „Schwester …“, flüsterte er mühsam.
    Derselbe Nachbar, der schon auf dem Weg der Besserung war, hörte es wieder und rief: „Tanja! Tanja! Der

Weitere Kostenlose Bücher