Der unersättliche Spinnenmann
zurückzuhalten, damit niemand sie sah. Aber sie krabbelten weiter heraus und wanden sich hin und her.«
»Hat das wehgetan?«
»Weiß nicht mehr. Glaub nicht.«
Wir stehen auf. Ich rasiere mich, putze mir die Zähne, mache Kaffee, scheiße. Sehe zum Fenster hinaus. Alles ist schlimmer als gestern, doch aus Gewöhnung und Bequemlichkeit sagt man das nicht. Richtig wäre, zu sagen: ›Ich sehe aus dem Fenster. Alles okay.‹
Julia mag den Kaffee nicht. Sie sagt, dass er bitter schmeckt. Ich ziehe mich an und fahre zu meiner Mutter. Sie wohnt in El Calvario, einem Vorort im Süden der Stadt. Ganz allein. Schon seit Jahren ist sie Witwe. Ich steige in einen Bus voller schlecht gelaunter, verschwitzter Leute. Es stinkt penetrant nach Achselschweiß. Anscheinend haben hier ein paar nicht genug Geld, um sich Deodorant zu kaufen. An jeder Haltestelle steigen drei oder vier aus und zwanzig ein. Und so geht’s weiter Richtung Süden. Manche unterhalten sich. Und beklagen sich. Andere hören weg und schauen zum Fenster hinaus. Ich versuche, nicht denen zuzuhören, die über alles meckern und alles kritisieren. Hab die Schnauze voll vom Geklage und Gemecker. Manchmal denke ich: ›Du bist derjenige, der nicht richtig ist im Kopf. Du bist der, der ‘ne Macke hat, Scheißpessimist. Du bist ein Vollidiot, und du wirst alt, verbittert und arteriosklerotisch.‹ Doch sobald ich auf die Straße hinausgehe, höre ich die Leute, wie sie sich schlechter Laune und stinksauer über alles beklagen und sich gegenseitig mit Wut und Hass anstecken. Was ist das nur? Die globale Erwärmung? Die Apokalypse? Warum nur so viel Bitterkeit und Frustration?
Ich versuche aus dem Fenster zu schauen und mich auszuklinken. Der Boulevard 10. Oktober sieht so verkommen aus, dass es einen deprimiert. Ach, heilige Barbara, ich werd noch verrückt, lass mich doch nicht so klar sehen!
Meine Mutter wohnt in einem kleinen, hässlichen, lächerlichen, schlecht belüfteten und stickigen Häuschen voller verstaubtem Nippes aus Plastik und Gips. Zwischen dem Häuschen und der Straße ist ein Stück Erde. Es könnte einen ordentlichen Garten abgeben, aber es ist nicht gerade ein Garten. Es ist ein Stück Erde, auf dem sie ein paar Büsche gepflanzt hat. Außerdem stehen dort ein Zitronenbaum, ein Mandelbaum, ein Orangenbaum und ein Flamboyant. Über und über von roten Blüten bedeckt. Man hört immer die Vögel singen, und es leben sehr wenige Leute ringsherum. El Calvario ist ein ruhiges Viertel. Meine Mutter lässt den ganzen Tag über die Türen und Fenster offen stehen. Ein paar hundert Meter entfernt liegt auf einem Hügel ein kleiner Friedhof. Wenige Meter weiter, unterhalb des Hügels, verläuft die Autobahn, die um die Stadt herumführt. Von Zeit zu Zeit erinnert sie mich daran, dass sie um nichts in der Welt auf diesem Friedhof begraben werden möchte, der zweihundert Meter von ihrem Haus entfernt liegt. Nein, nein, nein. Sie will zweihundert Kilometer von hier begraben werden, in San Luis, Pinar del Río, wo sie vor achtzig Jahren geboren wurde.
»Alte, das ist eine deiner Gemeinheiten. Einen noch nach dem Tod triezen wollen. Ich begrab dich hier und fertig.«
»Von wegen! In San Luis. Und ihr müsst mich vor der Kirche auffahren, während die Glocken läuten. Und mir innerhalb von achtundvierzig Stunden eine Messe lesen lassen.«
Eine richtige Diktatorin, die alte Dame.
»Und wenn ich’s nicht tue? Ist doch egal, ob du hier oder dort vergammelst.«
»Ich erscheine dir jede Nacht, bis du mich wieder ausgräbst und nach San Luis bringst.«
Schließlich und endlich wird sie nicht mal, wenn sie tot ist, aufhören, Befehle zu geben. Ihre Großeltern väterlicherseits waren beide aus Asturias. Das erklärt zum Teil ihren verstockten Charakter einer Bergbewohnerin.
El Calvario ist ein ganz anderer Stadtteil als meiner. Das Zentrum von Havanna ist ein Hexenkessel und wie eine große, feuchte, versiffte Höhle, die von Scheiße, Ratten und Kakerlaken nur so überquillt. Oft habe ich daran gedacht, mir eine Wohnung in El Calvario zu suchen und mich vom Hexenkessel zu entfernen. Aber die Nähe zu meiner Mutter wäre die reinste Folter. Ist besser so. Ein paar Stunden im Monat.
Sie ist schon sehr alt und müde und hat keine Kraft zum Arbeiten mehr. Will heißen, dass das Haus ein bisschen schmutzig ist. Nicht nur ein bisschen. Ziemlich schmutzig. Ich komme an, sehe niemanden und gehe auf Zehenspitzen bis nach hinten hinein. Ich finde sie in der
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