Der ungeladene Gast
Sie.«
»Nun, da ich keinen anderen Bruder habe, war es definitiv dieser hier – Ernest eben«, sagte Patience ein wenig pikiert.
»Verstehe«, brummte John nachgiebig, allerdings mit der Miene eines Menschen, der kein großes Aufheben wegen einer Sache machen will, jedoch sehr wohl weiß, dass er im Recht ist. Er war stolz auf sein Gedächtnis. Er war stolz auf sehr viele Dinge. Und insgeheim war er absolut sicher, dass es einen anderen Bruder gegeben hatte, einen mit karottenroten Haaren und einer Augenklappe, den diese beiden gut aussehenden Geschwister entweder vergessen hatten oder aus irgendeinem Grund vor ihm geheim halten wollten. Aber da er die Suttons nicht gut der Lüge bezichtigen konnte, ließ er die Sache auf sich beruhen.
Ernest nahm für einen Augenblick seine Brille ab, um sich die Augen zu reiben, und Emerald ertappte sich dabei, dass sie sich praktisch vorbeugte, um sein Gesicht ohne die Brille in Augenschein nehmen zu können. Erst als er sie wieder aufsetzte, löste sich der Bann, unter dem sie gestanden hatte, und sie wandte sich wieder John zu. Sie fand keine höfliche Möglichkeit zu sagen: Ja, Sie haben recht. Ernest hat sich so verändert, dass er praktisch nicht wiederzuerkennen ist. Er war unzweifelhaft kein sehr einnehmendes Kind und sieht jetzt völlig anders aus. Also sagte sie nur: »Es muss irgendwann Ostern gewesen sein, als ihr alle euch kennengelernt habt.«
»Du hast recht!«, rief Patience, aber es blieb ihnen erspart, in ihrem kollektiven Gedächtnis nach nostalgischen Erinnerungen an Ostereier und Pfänderspiele herumzukramen, die Horace Torrington sich für sie ausgedacht hatte, weil die Tür erneut geöffnet wurde. Clovis und sein neuer Freund kamen, übers ganze Gesicht strahlend, ins Zimmer, wobei Clovis auf die steife Hemdbrust und die weiße Fliege deutete, die Charlie mit fahlen Fingern zurechtzupfte.
»Na, was sagen Sie nun?«, fragte Charlie mit einem sonnigen Lächeln. »Was sagen Sie nun?«
Vielleicht, dachte Emerald, hatte sie den Mann vorhin falsch eingeschätzt. Er schien entschlossen, alle für sich einzunehmen.
»Sie sehen sehr elegant aus, Mr …« Sie schüttelte den Kopf, weil sie den Namen schon wieder vergessen hatte. »Wirklich sehr elegant. Und wer hätte gedacht, dass Clovis mehr als ein ordentliches Hemd in seinem Schrank hat? Clo, würdest du bitte ein Scheit nachlegen? Es ist kaum zu glauben, dass das Feuer schon wieder …«
Ein gewaltiger Donnerschlag – laut genug, um die dicken Wände zu durchdringen – ließ sie mitten im Satz innehalten und die anderen Gäste erschrocken und entzückt nach Luft schnappen.
»Genau das Richtige an einem Abend wie diesem!«, rief Charlie vergnügt, und alle drängten sich wie in Erwartung eines Feuerwerks an die hohen Fenster. Sie spähten durch das Glas, versessen auf mehr Donner, mehr wild zuckende elektrische Entladungen. Der Regen prasselte gegen die Scheiben. Hinter ihnen wurde die Tür geöffnet.
Alle drehten sich um.
Charlotte, ein lebendes Gemälde im Rechteck der Tür, erwartete ihre Begrüßung.
»Mutter …«
»Guten Abend …«
Charlottes bisher bewundernder Ausdruck – der entweder denen galt, die sie betrachtete, oder aber ihr selbst – verwandelte sich plötzlich in etwas, das Entsetzen gleichkam und das sie nicht überspielen konnte. Ihre Finger krampften sich so fest um den Türknauf, in diesem Fall einen aus Kristall, dass sie weiß wurden, und sie blickte den neu zu ihnen gestoßenen Gentleman wie gebannt an.
»Sie?«, sagte sie.
»Ja.« Die Stimme des Besuchers klang gelassen, aber seine katzenartige Stille wirkte bedrohlich. »Und doch habe ich das Gefühl, mich erneut vorstellen zu müssen, obwohl mein Name sich, anders als der Ihre, nicht verändert hat. Mrs Swift, nicht wahr?«
»Ja, Charlotte Swift«, murmelte sie, ohne ihre außergewöhnlichen Augen von seinem Gesicht zu lösen.
Getrieben von dem Gefühl, ihre Mutter beschützen zu müssen, obwohl sie nicht wusste, wovor eigentlich, trat Emerald neben sie.
»Mutter, der Herr war ebenfalls im Zug. In dem, der entgleist ist. Clovis hat ihn zum Essen eingeladen.«
Und Clovis fügte hinzu: »Ma, das hier ist Mr … Charlie sagte, ihr beide kennt euch?«
Unvermittelt stimmte Charlotte ihr undefinierbarstes und liebenswürdigstes Lachen an.
»Wir kennen uns tatsächlich, Clovis. Charlie Traversham-Beechers ist ein alter Bekannter. Allerdings ist das schon viele Jahre her.« Sie schien keine Probleme zu haben, sich an
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