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Der ungeladene Gast

Der ungeladene Gast

Titel: Der ungeladene Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jones
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der Nähe des jeweils anderen zutiefst bewusst. Clovis konnte nicht umhin zu bemerken, dass Patience angenehm nach irgendetwas Blumigem duftete; und sie konnte nicht umhin, die Hitze wahrzunehmen, die von ihm ausstrahlte und im krassen Gegensatz zu seiner zur Schau gestellten Unterkühltheit stand.
    Nur Ernest hatte niemanden, den er zum Essen führen konnte.
    »Wir sind formiert. Ernest, würdest du bitte die Nachhut bilden und uns Rückendeckung geben?«, lautete Charlottes etwas obskure Anweisung, und die Gesellschaft verließ das Zimmer.
    Trappelnde Füße im Flur hinter ihnen kündigten die Ankunft von Smudge an. In der Hoffnung, sich unauffällig unter sie mischen zu können, ging sie die letzten Schritte auf Zehenspitzen.
    »Kein Haarband?«, tadelte ihre Mutter, und Smudge griff hastig an die Seite ihres Kopfes, wo eine große, nachlässig gebundene Schleife schlaff herunterbaumelte. »Außerdem riechst du nach Pferd. Warst du wieder in den Ställen?«
    Unter den Blicken ihrer Mutter, ihrer Geschwister und der Gäste, die alle unauffällig versuchten, den Stallgeruch zu erschnuppern, wischte Smudge ihre schmutzigen Hände an ihrem blauen Samtrock ab.
    »Ja«, gab sie zu.
    »Geh und wasch dir auf der Stelle die Hände«, befahl Emerald.
    »Oh nein!«, protestierte Smudge. »Dann müsst ihr aber auf mich warten. Und wer führt mich zum Dinner?«, wollte sie, von einem Fuß auf den anderen trippelnd, wissen.
    »Ich, Miss Imogen«, sagte Ernest mit fester Stimme und machte sich bereit, so lange zu warten, wie Smudge brauchte, um sich herzurichten.
    »Gut. Vielen Dank«, murmelte Charlotte. »Sollen wir dann?« Und sie machte Anstalten, ihn zurückzulassen.
    Genau da klingelte das Telefon.
    Alle blieben stehen und lauschten auf das harsche Geräusch, das aus der fernen Halle zu ihnen drang. Wie immer klang es gebieterisch und modern, an diesem Abend aber auch auf misstönende Weise Unheil verkündend.
    Sie warteten.
    Das Telefon klingelte weiter. Nach einer ganzen Weile hastete Myrtle an ihnen vorbei, völlig außer Atem und damit beschäftigt, ihre Haube zurechtzurücken. Mit sich brachte sie den verlockenden Duft von Röstzwiebeln und Schmorfleisch.
    Sie erreichten die Tür des Speisezimmers genau in dem Augenblick, als Myrtle zurückgetrottet kam und vergeblich versuchte, den Anschein zu erwecken, sie habe nichts anderes zu tun, als das Telefon zu beantworten.
    »Mrs Swift, Ma’am? Miss Torrington? Es ist die Eisenbahn. Wegen der Passagiere.«
    »Oh – an die habe ich überhaupt nicht mehr gedacht«, sagte Charlotte. »Muss ich wirklich ausgerechnet jetzt mit diesen Leuten sprechen?«
    »Bitte, Mutter«, flehte Emerald. »Vielleicht wollen sie sie endlich abholen …«
    »Clovis, würdest du?«
    »Ach, verflixt …«
    »Soll vielleicht ich den Anruf entgegennehmen?«, schlug Charlie Traversham-Beechers mit seltsam gebieterischer Stimme vor. »Ich hatte bereits früher mit der Eisenbahn zu tun.«
    »Nein!«, kam es scharf von Charlotte. »Nicht Sie!«
    Als sie die Halle erreichten, lenkte ein lautes Klicken sie ab – allerdings kam es nicht aus dem Telefon, sondern aus dem Studierzimmer.
    Alle beobachteten gebannt, wie der Knauf sich drehte und die Tür immer weiter und weiter geöffnet wurde. Dicht gedrängt kamen die Passagiere zum Vorschein. Wie Käfer, die man aus einem Schuhkarton schüttelt, quollen sie aus dem Zimmer hervor. Es schienen so viele zu sein! Vorhin war es doch höchstens ein Dutzend oder so? Jetzt waren es mindestens zwanzig. Die Familienmitglieder und die Gäste blieben stehen und blickten ihnen entgegen. Falls irgend möglich, sahen die ungeladenen Gäste noch armseliger und schäbiger aus als bei ihrer Ankunft. Ein paar von ihnen schlenderten ziellos zu den Fenstern, um in den Regen hinauszublicken, der in tausend kleinen Rinnsalen, die die stürmische Aussicht zersplitterten, an den Scheiben hinabrann.
    Aufschreckend erinnerte Emerald sich an das Telefon und eilte hinüber. Die elenden Gesichter wandten sich ihr zu, um sie zu beobachten.
    »Die Eisenbahn«, flüsterten sie sich gegenseitig zu. »Die Eisenbahn.«
    Gäste, Familienmitglieder und Passagiere standen in der Halle herum, während Emerald zu dem Tischchen mit dem Telefon lief.
    Sie griff nach dem Hörer.
    Durch die pulsierenden Leitungen und die lange, geflochtene schwarze Schnur drang an diesem windigen Abend ein knackendes, scharrendes Geräusch an ihr Ohr, wie Wellen, die über Kiesel schäumen und sie klickend

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