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Der ungeladene Gast

Der ungeladene Gast

Titel: Der ungeladene Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jones
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die Fenster.
    Die Passagiere schienen sich nicht zu bewegen. Tatsächlich aber schoben sie sich näher.
    »Ich bedaure sehr, dass Sie Ihren Weg nicht fortsetzen können«, fuhr Emerald fort. »Und es tut mir leid wegen Ihrer – Ihrer Unannehmlichkeiten.«
    Immer noch kamen die Reisenden langsam auf sie zu.
    »Was wollen Sie denn noch?«, rief Charlie Traversham-Beechers mit lauter Stimme und brach den Bann ihres kollektiven Blicks. Sein Ton klang sehr gebieterisch. »Alles Weitere später«, sagte er.
    »Ich verspreche es«, fügte Emerald hinzu.
    Beschwichtigt oder aber eingeschüchtert, wichen die Passagiere langsam zurück. Mit ruckhaften Bewegungen, wie die flackernden Bilder einer rückwärts abgespulten Filmrolle, zogen sie sich ins Studierzimmer zurück und schlossen die Tür.
    »O mein Gott!«, ächzte Charlotte sotto voce und stieß ein leises, hysterisches Lachen aus.
    Smudge schob sich neben sie und ergriff ihre Hand.
    »Mutter«, sagte sie. »Sie haben bestimmt Hunger.«
    Charlotte sah sie kalt an. »Sei nicht albern, Smudge. Sie können unmöglich erwarten, auch noch durchgefüttert zu werden.«
    »Wir sollten uns wirklich mehr um sie kümmern«, räumte Emerald ein, die nach dem Zusammentreffen mit den Fremden immer noch leise zitterte und tief Luft holte, um wieder ruhiger zu werden.
    »Nicht an deinem Geburtstag«, sagte Charlotte.
    Alle zögerten kurz, betrachteten die geschlossene Tür des Studierzimmers und erforschten ihr Gewissen.
    Dann lächelte Traversham-Beechers. Seine Stimme glitt in die Stille hinein wie eine Schlange in einen Schlafsack. »Alles schön und gut«, sagte er. »Aber was ist mit den anderen, die unterwegs sind? Sollten Sie nicht besser die Anweisungen befolgen? Sollten Sie nicht jemanden schicken, der sie abholt?«
    Emerald nickte. »Jemand muss Robert bitten, sich mit Stanley auf den Weg zu machen und sich um sie zu kümmern. Clovis?«
    »Ist gut, ich flitze zu den Ställen«, sagte Clovis. Und flitzte.
    »Das alles«, sagte Charlotte in die Stille hinein, die auf seinen Abgang folgte, »ist ja sehr unterhaltsam, aber was ist mit dem Essen? Sollen wir endlich hineingehen?«
    Sie hielt ihrem schnurrbärtigen Begleiter den Arm hin.
    In diesem Augenblick ertönte ein gedämpftes Scheppern, ein splitterndes, nachhallendes Geräusch, gefolgt von einem kurzen Aufschrei. Die Gäste sahen sich ein wenig nervös um. Dieses Mal waren weder Donner noch umstürzende Möbel die Ursache des Lärms. Vielmehr schien er aus Richtung der Küche zu kommen.
    Die Geburtstagsgesellschaft nahm an einem Tisch Platz, auf dem keinerlei Speisen zu sehen waren.
    Befremdlicherweise roch es intensiv und verlockend nach Mockturtlesuppe, ein Geruch, der in der kalten Luft hing wie Dampf, der sich soeben erst aufgelöst hat. Die Terrine jedoch, sollte es eine gegeben haben, war nirgends zu sehen. Alle fragten sich, wo sie hingekommen sein konnte.
    Ein paar Minuten zuvor war Myrtle, nachdem sie Emerald ans Telefon gerufen hatte, ins Esszimmer gehastet, um die schnell kalt werdende Suppe zu holen und in der Küche warm zu halten, bis die Gäste sich wieder eingefunden hatten. Unglücklicherweise waren ihre Finger noch fettig vom Abwaschen des Tiegels, in dem der Kalbskopf für die Suppe überbrüht worden war. Das Fett auf ihrer Haut, das im kalten Wasser hart geworden war, fing unter der Wärme der schweren, vergoldeten Terrine mit der Mockturtlesuppe an zu schmelzen und machte ihre Finger schlüpfrig, und in der Küchentür war die randvolle Terrine ihrem Griff entglitten, auf die Steinfliesen aufgeschlagen und zersprungen.
    Die reichhaltige Suppe ergoss sich, gemischt mit Porzellanscherben und -splittern, völlig unbrauchbar geworden, in einem glitzernden, unfassbaren Schwall über die Küchenschwelle, unter den Schrank, auf die Fläche vor dem Herd und in Ritzen, Rinnen und Winkel, deren Existenz niemand sich je vorgestellt hatte. Stumm vor Entsetzen schöpften Florence und Myrtle die heiße Flüssigkeit mit den Händen auf, versuchten, ihrer mit grauen Scheuerlappen Herr zu werden, schaufelten sie auf alte Zeitungen und versenkten sie im Müll. Das dauerte eine Weile. Florence ersparte der zutiefst zerknirschten Myrtle jede Strafpredigt. Viel schlimmere Dinge waren ihnen beiden zugestoßen – oder würden ihnen noch zustoßen. Dennoch war der Verlust der Suppe ein schwerer Schlag: das Abbrühen des Kalbskopfes, das Zerkleinern des Gehirns, die Unmengen von Madeira und das gewissenhafte Formen jedes

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