Der ungeladene Gast
dass sie unerschütterlich liebenswürdig blieb, während sie sich nach dem Wohlbefinden der Passagiere erkundigte. Sie schien es richtig zu genießen, ihnen eine Freude machen zu können. Während sie, hell wie eine Goldmünze in dem halbdunklen Studierzimmer, von einer schäbigen Person zur nächsten huschte, fand Clovis ihren Anblick – herzergreifend. Sie schien ihn mit neuer Energie zu erfüllen. Einmal rutschte sie, vielleicht müde von der ungewohnten Dienstbarkeit, auf einem säuberlich abgenagten Knochen aus, der irgendwie auf den Boden gelangt war, denn die Passagiere mussten nicht nur ihr Essen, sondern auch ihre Kinder und ihr Gepäck auf dem Schoß balancieren. Ihr Fuß in dem dünnen Schühchen rutschte unter ihr weg, und Clovis – schnell wie ein Windhund – schoss quer durchs Zimmer, um ihr seinen Arm hinzuhalten.
»Du musst besser aufpassen, Patience. Alles in Ordnung?«, fragte er, als nicht nur sie, sondern alle verkniffenen, blassen Gesichter im Raum innehielten und einen Moment aufsahen. Und was ist mit uns?, schienen sie zu sagen. Wieso fragt keiner, wie es uns geht, wo wir einen so furchtbaren Unfall hinter uns haben und unter Schock stehen und nicht wissen, wie es mit uns weitergehen wird?
Aber Clovis und Patience hatten nur Augen füreinander, als sie dort standen, er immer noch mit der Hand unter ihrem Arm, umschlossen von der Wärme gegenseitiger Fürsorglichkeit. »Danke, Clovis, wie ungeschickt von mir.«
»Überhaupt nicht«, sagte er und bückte sich nach dem Kaninchenknochen, der Patience um ein Haar zu Fall gebracht hätte. Mit einem verlegenen Grinsen richtete er sich wieder auf.
Im Raum war bis auf das Kauen und Atmen aller zwanzig Anwesenden kein Ton zu hören.
»Ob sie allmählich satt sind?«, flüsterte Patience Clovis ins Ohr, aber er war so hingerissen vom Gefühl ihrer Nähe, dass er ihr nicht antworten konnte.
Im leeren Speisezimmer hatte sich Tenterhooks über die Fischreste hergemacht. Was immer hier und dort zu finden war, war aufgeleckt und aufgeschleckt worden, obwohl das Kätzchen vor lauter genüsslichem Schnurren kaum schlucken konnte. Kurz darauf hatte der Magen des Tiers heftig gegen die ungewohnten Essensmassen revoltiert und sie wieder von sich gegeben, und nun sah der Tisch nicht mehr annähernd so einladend aus wie zu dem Zeitpunkt, als die Gäste ihn verlassen hatten. Doch das spielte keine Rolle, da das Speisezimmer – für den Augenblick – menschenleer war. Sogar Traversham-Beechers war verschwunden. Nirgends war auch nur die geringste Spur von ihm zu sehen; kein noch so zartes Rauchwölkchen, kein noch so leiser Hauch von Haaröl hing in der Luft. War er bei den Passagieren, um sich wie sie den Bauch vollzuschlagen? Saß er, in einen schäbigen Wollschal gehüllt, in irgendeiner Ecke, den Kopf eines Babys in der Armbeuge? Oder wanderte er durch die Flure und ließ die Finger über das glatte Holz der Wandverkleidung gleiten? Vielleicht gönnte er seinen müden Knochen auch einfach nur ein wenig Ruhe, bis sie das nächste Mal gebraucht wurden.
Gemeinsam mit Lady hinter der dicken, verschlossenen Tür ihres Zimmers verbarrikadiert, gestärkt durch den Stint und dankbar dafür, dass die anderen durch die anspruchsvollen Überlebenden abgelenkt waren, stürzte sich Smudge mit neuer Energie auf das Porträt des Ponys. Der Versuch, Ladys eine Seite mit Kohle einzureiben und sie dann gegen die Wand zu drücken und auf diese Weise einen Abdruck herzustellen, war mangels Erfolg als zu ehrgeizig aufgegeben worden. Jetzt war Smudge eifrig damit beschäftigt, ihre Nachttischlampe so zu platzieren, dass sie einen akkuraten Schatten des Ponys auf die Wand warf, den sie dann nachzeichnen wollte. Die Minuten flogen unbemerkt vorbei, die Stunden vergingen, ohne dass sie Notiz davon nahm. Sie war voll und ganz in ihr Kunstwerk vertieft.
Im Frühstückszimmer musterten Emerald, Clovis, John, Ernest, Florence und Patience die Reisenden, die endlich mit Essen fertig waren und sich nun verdrossen die Finger ableckten, die Hände ihrer Kinder umfasst hielten oder stumpf ins Feuer starrten. Obwohl sie für den Augenblick zufriedengestellt waren, hatte ihre Stimmung sich nicht merklich gebessert. Falls überhaupt, herrschte sogar eine gesteigerte Atmosphäre der Bedürftigkeit; sie schienen mit ihren nebelhaften Wünschen und Sehnsüchten die Luft selbst aus dem Raum zu saugen.
»Vielleicht können wir uns jetzt wegschleichen?«, murmelte Emerald.
Das kleine
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