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Der ungeladene Gast

Der ungeladene Gast

Titel: Der ungeladene Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jones
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Obwohl er wusste, dass die Passagiere für den Augenblick zufriedengestellt waren, traute er der offenkundigen Leere des Hauses nicht so recht und hatte beim Gehen ständig das Gefühl, sie aus den Augenwinkeln herumhuschen zu sehen.
    Oben wirkte alles so hell erleuchtet und heimelig wie zuvor. Er klopfte an die Tür des Schlafzimmers seiner Mutter, des größten, genau in der Mitte des Hauses.
    »Wer ist da?«
    Ihre Stimme klang verängstigt; anscheinend hatte er sie erschreckt.
    »Ich bin es nur«, sagte er und trat ein.
    Charlotte hatte sich auf einen Ellbogen aufgerichtet. Das große Erkerfenster befand sich genau hinter ihr, die seidenen Vorhänge halb zugezogen, gerüscht und mit Fransen versehen wie in den Boudoirszenen in La Bohème in Covent Garden, wo Clovis, Emerald, Charlotte und Horace einen unvergessenen Abend in einer der Logen verbracht hatten, eingetaucht in Schönheit, durchtränkt von Schönheit.
    »Alles in Ordnung, Mutter?«, fragte er.
    Sie hatte sich mit einem Seufzer auf das Bett zurücksinken lassen, und seine Frage kam von Herzen.
    »Setz dich, mein Junge«, sagte sie und nahm, als er ihrer Aufforderung Folge geleistet hatte, seine Hand.
    »Die Gäste, das heißt die Leute vom Unfall, sind abgefüttert. Und jetzt sitzen wir anderen im Speisezimmer und essen auch eine Kleinigkeit. Willst du uns nicht Gesellschaft leisten?« Er fühlte sich an die schrecklichen Tage nach dem Tod seines Vaters erinnert, als er unzählige Male versucht hatte, sie zu überreden, ihr Zimmer zu verlassen. Clovis war siebzehn gewesen, als Horace Torrington starb; er hatte sich, so gut er konnte, um seine Mutter gekümmert und seine Sache durchaus gut gemacht – bis sie sich einen neuen Ehemann nahm. Jetzt hielt er ihre Hand. »Ma?«
    Sie sah ihn nicht an. »Ist er immer noch da?«, fragte sie mit leiser Stimme.
    »Wer?«
    »Traversham-Beechers.« Sie sprach den Namen tonlos aus, völlig ohne Modulation. Aber anscheinend hatte sie keine Schwierigkeiten, sich daran zu erinnern.
    »Wo sollte er denn sonst sein, Mutter? Magst du ihn nicht? Ich weiß, er redet zu viel, aber ich glaube, ich mag ihn. Sehr sogar.«
    Sie antwortete nicht. »Wie spät ist es?«, fragte sie dann, setzte sich langsam auf und betastete ihre Frisur.
    »Ich bin mir nicht sicher. So gegen zehn, denke ich. Hast du es eigentlich warm genug?«
    Das Feuer in ihrem Kamin war fast ausgegangen. Clovis durchquerte das Zimmer, stocherte in der Glut herum, nahm dann den Kohleneimer und schüttete unter viel Geklapper und aufsteigenden Staubwolken Kohlen auf die Glut.
    »Nicht so laut. Mein Kopf.«
    »Tut mir leid«, sagte er gut gelaunt und trat ans Fenster. »Was für ein furchtbares Wetter. Morgen ist sicher alles dicht vor Nebel. Und? Was ist jetzt? Kommst du mit nach unten?«
    Sie gab seiner unbeholfenen Zärtlichkeit nach und hielt ihm beide Hände hin. Er ergriff sie und zog sie vom Bett. Einen Augenblick schmiegte sie die Wange an den glatten Aufschlag seines Jacketts. Ungefähr seit dem Tag, an dem sein Vater beerdigt wurde, war er groß genug, dass sie das tun konnte, ohne sich verrenken zu müssen.
    »Mein lieber Junge«, sagte sie, »könntest du deine alte Mutter je hassen?«
    Clovis tätschelte sie. »Was für eine alberne Frage, Ma. Was ist bloß los mit dir?«
    »Antworte mir. Ich muss es wissen. Egal was passiert? Könntet ihr, Emerald und du, mich je hassen?«
    Clovis gab jede Zurückhaltung auf und senkte in grenzenloser Liebe den Kopf. Seine glatt rasierte Wange berührte leicht ihre Haare.
    »Nein, Mutter, niemals. Wir könnten dich nie hassen. Du bist uns das Allerliebste, und das solltest du eigentlich wissen.«
    Sie war wieder vergnügt, das war seine Belohnung. »Dann komm jetzt, du Dummchen, lass uns nach unten gehen. Wieso sollte ich hier oben bleiben, wenn wir doch Gäste im Haus haben?«
    »Auftrag wie befohlen ausgeführt«, verkündete Clovis bei seiner Rückkehr, und Sekunden später stieß Charlotte, einen Arm bühnenreif in die Luft gereckt, die Tür weit auf.
    »O mein Gott!«, rief sie, entsetzt über den Zustand des Zimmers. Der Tisch war ein einziges Chaos; eine an Caravaggio gemahnende Albtraumwelt; eine überquellende Abraumhalde. »Was ist denn hier passiert?«
    »So sieht es nun einmal aus, wenn eine Affenhorde einfällt«, sagte Clovis.
    Die Herren sprangen hastig auf.
    Auch Florence war aufgestanden; sie hatte nur an ihrem Essen herumgepickt. Überhaupt aß sie seit Jahren kaum noch etwas. Essen bedeutete ihr

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