Der ungeladene Gast
Bett bequem. Er sah nicht mehr ganz so tadellos aus wie zu Beginn, sondern wirkte ein wenig mitgenommen. Zwar war er immer noch lebensgroß, aber nicht mehr so voller Vitalität. Trotzdem war er – gnadenlos. Gegen ihren Willen, völlig erschöpft, fing Charlotte an, kläglich zu weinen.
»Du hast mich ruiniert«, sagte sie.
»Das hast du selbst getan, bevor du mich auch nur kanntest.«
»Du hast meine Kinder verstört.«
»Sie sind alt genug, um die Wahrheit zu erfahren.«
»Ich werde dieses Haus verlieren.«
»Wieso? Wird dein Ehemann dich vor die Tür setzen, wenn er es erfährt?« Er gähnte, als wäre ihm das alles völlig egal, als ermüdete es ihn über alle Maßen.
»Höchstwahrscheinlich. Aber darum geht es nicht. Wir sind völlig pleite. Ob ich weglaufe oder nicht – es ist ein und dasselbe. Ich werde alles verlieren und völlig verarmt sein …«
»So wie du es verdienst.«
»Ich habe dieses Haus geliebt. Meine Kinder werden ihr Zuhause verlieren.«
»Meinst du, mir kommen deswegen die Tränen? Absolut nicht.«
»Ich gehe weg. Robert und Stanley werden bald zurückkommen.« Sie stand auf und ging ans Fenster.
»Ich habe sie weggeschickt, Charlotte.«
»Du?« Sie fuhr zu ihm herum.
»Natürlich.«
»Was meinst du damit?«
Er sah sie abfällig an. »Was glaubst du denn, wer sie weggeschickt hat? Wer dafür gesorgt hat, dass du schutzlos zurückbleibst. Die Eisenbahn?«
»Natürlich«, bestätigte sie. »Sie haben mit Emerald gesprochen und gesagt, wir sollen noch mehr Passagiere aufnehmen.«
»Glaubst du wirklich, eine altehrwürdige Institution wie die Great Central Railway ruft ausgerechnet dich an?« Er seufzte und tat dann etwas Seltsames.
Etwas überaus Seltsames.
Er gab ein Geräusch von sich, das klang, als käme es aus der kleinen, klaffenden Höreröffnung eines Telefons. Sein Mund öffnete sich, und die von Knistern begleitete, selbstsichere, dröhnende Stimme von Mr William Flockhart von der Great Central Railway war zu hören.
»Sie müssen weitere Passagiere aufnehmen«, schrie er, begleitet von telefonischem Knacken und Knistern, und wechselte abrupt zu einer leisen, an ein Kind gemahnenden Stimme aus weiter Ferne: »Ich habe die Eisenbahngesellschaft für Sie«, sagte er affektiert, und dann, ohne menschliches Atemholen, wechselte er zur Stimme von Elsie Goodwin im Postamt über: »Vermittlung! Miss Torrington auf Sterne!«, kreischte er.
»Hör auf!«
Sie spürte, wie ihre Beine angesichts dieser Erscheinung unter ihr nachgaben und sank, schwach vor Angst, auf das Bett, wo sie die Hände vor das Gesicht schlug. Sofort darauf nahm sie sie wieder weg, entsetzt von der Vorstellung, was er tun würde, wenn sie ihn nicht sehen konnte, und war noch entsetzter, als sie sah, dass er auf sie zukam – aber – war er es wirklich?
Während sie widerstrebend hinsah, schien er sich zu verändern. War das möglich? Im einen Moment noch scharf vor dem blassen Hintergrund ihres Zimmers abgezeichnet, schien es nun, als verschwömme er um den Rand herum, als waberten seine Konturen wie eine Seifenblase, die sich ständig verändert. Smudge mit ihren kindlichen Augen hatte etwas Ähnliches bemerkt, als sie glaubte, ihn von Kohlestrichen umrandet zu sehen, aber das hier ging weiter. Charlotte wurde nun Zeugin des unnatürlichen Anblicks eines Mannes, der gleichzeitig größer und breiter wurde; unerklärlicherweise schien er sogar die Form seines Schädels zu verändern. Sein Kopf, eben noch rund und so glatt wie der eines Seehunds, wurde derber, kantiger, wie der Schädel eines Bullen. Verlor sie den Verstand? Träumte sie?
Charlie Traversham-Beechers wurde ausgetauscht.
Seine rotweinfarbene Weste verdunkelte sich zu anthrazit, wurde, während sie zusah, noch dunkler, wurde schwarz. Ihre Augen hefteten sich glasig auf seine goldene Uhrkette, die dicker zu werden schien – dicker wurde –, nicht nur, weil sie vor lauter Angst nicht mehr richtig sehen konnte, sondern tatsächlich. Aus der zarten Goldkordel wurden derbe Bronzeglieder. Sie riss die Augen von seiner Brust los und hob sie noch einmal zu seinem Gesicht. Die unheimliche Eckigkeit seines Kopfes hatte sich – sie spürte, wie die Galle in ihre Kehle stieg – erneut verändert – konnte das sein? Seine Haare, schimmernd vor Haaröl, hinter die bösartigen Ohren zurückgekämmt, sträubten sich, wurden filzig vor Wolle oder Staub, verfilzten sich immer mehr, verdichteten sich, bis es keine Haare mehr waren, sondern der
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