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Der ungeladene Gast

Der ungeladene Gast

Titel: Der ungeladene Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jones
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dicke Filz einer Kopfbedeckung, einer Mütze, der Mütze eines Eisenbahnangestellten. Der Schirm wuchs aus seinem Kopf heraus; erst wie ein gigantischer Fingernagel, dann schwarz und glänzend. Das Eisenbahnemblem in seiner ganzen metallischen Solidität bildete sich schimmernd aus. Sie war wie gebannt. Er trat auf sie zu; ein Dienstmann. Ein Eisenbahndienstmann. Mit einem freundlichen Zwinkern zog er mit kurzen Stummelfingern die billige Uhr aus seiner Weste und sagte mit einer Stimme, in der der örtliche Akzent und Kohlenstaub mitschwangen: »Es hat einen schrecklichen Unfall auf der Nebenlinie gegeben, Sir.« Noch näher kommend, lächelte er. »Sie müssen zur Kreuzung fahren, Sir, um sie abzuholen. Bringen Sie sie nach Sterne, wenn ich bitten darf. Die Eisenbahn wäre Ihnen sehr dankbar.«
    Und dann, auf einen Schlag, schneller als das Verschwinden von Dampf in einem Zimmer – viel schneller als die Rauchwolken eines Zauberers auf der Bühne –, war der Dienstmann verschwunden und Traversham-Beechers wieder da.
    Es war, als wäre er einfach nur durchs Zimmer geschlendert, als hätte der Dienstmann nie existiert. Er saß ihr gegenüber auf dem Bett – zu nahe – und zog lässig eine Zigarre aus seiner Tasche. Nur sein harsches, schweres Atmen ließ darauf schließen, dass die Vorstellung, die er gegeben hatte, anstrengend gewesen war.
    »Nun, da wären wir also wieder«, sagte er. Ein dünner Schweißfilm überzog seine Stirn.
    Nur die Uhr schien vergessen zu haben, sich wieder zurückzuverwandeln. Sie schwang an ihrer Bronzekette hin und her, streifte leicht über das Paisleymuster der Daunendecke, ganz leicht, in immer kleiner werdenden Bögen.
    Charlotte hätte in Ohnmacht fallen, hätte völlig verstört im Zimmer umherlaufen können, hätte erneut anfangen können zu weinen. Aber sie tat nichts davon. Sie schrie. Sie schrie so laut, wie er selbst geschrien hatte, als Emeralds Kuchen angeschnitten wurde. Sie schrie so laut, wie Ferryman geschrien hatte, als er sich dagegen wehrte, eingeschirrt zu werden – lauter sogar. Sie schrie, dass die Hallen und Flure und Türen und Bodendielen von Sterne vom Echo ihres Entsetzens widerhallten.
    Smudge, auf dem Dach, ein dürres Zweiglein auf den Schiefern, hörte den Schrei und erstarrte. Der Schreck verschlug ihr den Atem.
    »Mutter?«, hauchte sie.
    Lady hörte den Schrei ebenfalls, kam endlich auf die Beine und stellte nervös die Ohren auf.
    Die lärmenden Passagiere in der Halle; die wenigen anderen, die sich gefügt hatten und zurück ins Studierzimmer gegangen waren; John, der einen Stock in der hoch erhobenen Hand hielt; Ernest, der versuchte, sich über den Lärm Gehör zu verschaffen; Patience auf der Treppe – alle erstarrten, als der Schrei ertönte.
    Emerald und Clovis standen nebeneinander und blickten in die gähnende Dunkelheit des alten Hauses. Emeralds erster Gedanke lautete, dass irgendwo ein Tier zu Tode gekommen war – es war bekannt, dass Kaninchen schreien konnten wie abgeschlachtete Babys, wenn sich die Zähne eines Fuchses um ihre Kehlen schlossen. Aber es war nicht zu leugnen, dass dieser Schrei – da musste sie nicht lange überlegen – der Schrei ihrer Mutter war.
    »Großer Gott!«, sagte Clovis und rannte in Richtung des Geräuschs.
    Gefolgt von Florence, liefen Emerald und Clovis zu den anderen in die Halle, vermittelten ihr Entsetzen, ohne dass auch nur ein Wort gesprochen wurde. Langsam gingen sie die Treppe hinauf.
    Mitten in der Bewegung erstarrt, standen die Passagiere in der Halle unter ihnen wie ein stummer Wald voller zerzauster, nebelverhangener Bäume und sahen ihnen nach.
    »Lassen Sie mich«, sagte John, als sie den Treppenabsatz erreichten, ging schnellen Schritts zu Charlottes Tür, hämmerte dagegen und forderte: »Was ist da drin los? Mrs Swift? Öffnen Sie die Tür!«
    Innen war absolut nichts zu hören.
    Emerald, die inzwischen hinter ihm stand, während Florence sich an ihre Schulter lehnte, sagte: »John, machen Sie die Tür auf.«
    Aber die Tür war verschlossen.
    Als sie John gegen die Tür hämmern hörte, trieb sich Smudge, immer noch auf dem schlüpfrigen Dach, zur Eile an und hastete trotz ihrer weichen Knie auf Charlottes Balkon zu. Plötzlich rutschten ihre Stiefel auf den nassen Schieferplatten aus, und sie konnte nur um ein Haar verhindern, dass sie stolperte und Hals über Kopf in die Tiefe stürzte, in den leeren Raum, auf die harte Erde. Gewarnt, schob sie sich nun langsamer, Zentimeter für

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