Der unglueckliche Moerder - Roman - Ausgezeichnet mit dem Skandinavischen Krimipreis
mager und ziemlich lang; einssechsundachtzig hatte Meusse mitgeteilt. Seine Kleidung lag auf einem anderen Tisch und sah ganz normal aus: Blue Jeans, grüne halblange Windjacke, ein dünner, ziemlich verschlissener Wollpullover, der einst hellgrau gewesen war, was man an einigen Stellen noch sehen konnte. Braune, schlichte Leinenschuhe.
Keine Ausweispapiere. Keine Brieftasche, keine Schlüssel, keine persönlichen Habseligkeiten. Irgendwer hatte ihm die Taschen geleert, das war klar.
Jemand hatte ihn ermordet, und zwar durch einen Schlag mit
einem stumpfen Gegenstand, gegen Kopf und Nacken, das war ebenso klar.
Ja ja, dachte Reinhart. Jetzt geht das wieder los.
Meusse räusperte sich, und Reinhart wusste, dass der andere jetzt seine Ruhe wollte. Im Gehen warf er noch einen letzten Blick auf das Gesicht des Toten.
Es war lang und schmal. Ein wenig verhärmt, mit breitem Mund und schweren Zügen. Lange Haare, hinter die Ohren gekämmt und im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Dunkle Bartstoppeln und eine kleine Narbe gleich unter dem linken Auge. Etwas an ihm kam Reinhart bekannt vor.
Ich habe dich schon einmal gesehen, dachte er.
Danach verließ er die Gerichtsmedizin und kehrte ins Präsidium zurück.
Kriminalinspektorin Ewa Moreno steckte die Fotos wieder in den Ordner und schob ihn über den Tisch hinweg Reinhart zu.
»Nix«, sagte sie. »Er steht nicht auf der Liste. Ansonsten haben wir aus den vergangenen Wochen nur drei Vermisstenmeldungen. Eine senile Frau ist aus einem Altersheim in Lohr ausgebüxt und ein fünfzehnjähriger Junge ist von zu Hause durchgebrannt.«
Rooth hörte auf, auf seinem Keks herumzukauen.
»Drei«, sagte er. »Du hast drei gesagt.«
»Das schon«, sagte Moreno. »Aber Nummer drei ist eine Schlange. Ich glaube, auch die können wir hier ausschließen.«
»Eine Schlange?«, fragte Jung.
»Eine grüne Mamba«, erklärte Moreno. »Ist offenbar in der Nacht von Montag auf Dienstag aus einer Wohnung in der Kellnerstraat verschwunden. Lebensgefährlich, ihrem Besitzer zufolge. Aber lieb. Kann einen Menschen in zwei Sekunden töten, hört auf den Namen Betsy.«
»Betsy?«, fragte Rooth. »Ich hatte mal eine Freundin, die Betsy hieß. Sie war überhaupt nicht lieb, aber verschwunden ist sie auch ...«
»Danke für die Auskünfte«, sagte Reinhart und klopfte mit der Pfeife auf den Tisch. »Ich glaube, das reicht. Tropische Schlangen können bei diesem Wetter ohnehin nicht lange überleben. Aber man möchte doch meinen, dass unser niedergeschlagener Junge bald mal von irgendwem vermisst werden müsste. Und wenn Meusse Recht hat ...«
»Meusse hat immer Recht«, warf Rooth dazwischen.
»Unterbrich mich nicht«, sagte Reinhart. »Wenn Meusse Recht hat, hat er seit dem Dienstag im Gebüsch gelegen, und die meisten warten höchstens ein bis zwei Tage, bis sie anrufen
. . . die Angehörigen, meine ich.«
»Aber wenn es keine gibt«, sagte Moreno. »Keine, die ihm nahe standen, meine ich.«
»Einsame alte Männer können ein halbes Jahr tot liegen bleiben«, sagte Jung.
»Ja, so geht es heutzutage zu«, seufzte Reinhart. »Nicht nur alte Männer, übrigens. Ich habe über eine Frau draußen in Gösslingen gelesen, die nach ihrem Tod noch zweieinhalb Jahre ihre Rente kassiert hat. Sie lag im Kartoffelkeller, und das Geld floss direkt auf ihr Konto ... hm, schöne Welt, in der wir da leben. Jung, was sagen die Leute im Restaurant?«
Jung schlug sein Notizbuch auf.
»Hab erst mit zwei von den Angestellten gesprochen«, erklärte er dann. »Vom Foto her hat ihn niemand erkannt, aber morgen Nachmittag sind wir mit zwei Leuten verabredet, die am Dienstag Dienst hatten. Wenn es dann passiert ist, wird ihn sicher irgendwer identifizieren können ... oder jedenfalls werden sie uns zumindest erzählen können, dass er bei ihnen gegessen hat.«
»Sonst noch etwas?«, fragte Reinhart und zündete seine Pfeife an.
»Ja, dieses Auto«, sagte Jung. »Offenbar steht seit Dienstag oder Mittwoch ein alter Peugeot da draußen. Wir haben die Sache überprüft, er gehört einem gewissen Elmer Kodowsky. Leider haben wir den noch nicht erreicht. Sein Hausmeister
sagt, dass er auf einer Bohrinsel irgendwo in der Nordsee arbeitet. . .«
»Schön«, sagte Reinhart. »Da draußen ist um diese Jahreszeit bestimmt tolles Wetter. Irgendwelche Freiwilligen?«
». . . aber der Hausmeister hat auch angedeutet, dass er vielleicht weniger weit entfernt zu finden sein könnte«, erklärte Jung.
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