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Der unglueckliche Moerder - Roman - Ausgezeichnet mit dem Skandinavischen Krimipreis

Der unglueckliche Moerder - Roman - Ausgezeichnet mit dem Skandinavischen Krimipreis

Titel: Der unglueckliche Moerder - Roman - Ausgezeichnet mit dem Skandinavischen Krimipreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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Digitalziffern des Transistorradios vor dem Fenster zeigten 04.55 Uhr. Draußen war noch immer schwarze Nacht; nur einige schräge Lichtstrahlen einer Straßenlaterne fielen in eine Ecke des dunklen Hauses auf der anderen Straßenseite. Guijdermann, die stillgelegte Bäckerei. Die Gegenstände, die er in der Küche erkennen konnte, waren in dasselbe tote Licht gehüllt. Herd, Spülbecken. Das Regal über dem Vorratsschrank, der Zeitungsstapel im Korb in der Ecke. Er öffnete die Kühlschranktür und ließ sie wieder zufallen. Nahm ein Glas aus dem Geschirrschrank und trank normales Leitungswasser. Erich ist tot, dachte er. Tot.
    Er kehrte ins Schlafzimmer zurück und zog sich an. Ulrike drehte sich derweil im Bett unruhig einige Male um, erwachte aber nicht. Er schlich sich in die Diele und zog die Tür hinter
sich zu. Zog Schuhe, Schal und Mantel an. Verließ die Wohnung und ging auf leisen Sohlen die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße.
    Ein leichter Regen fiel — oder trieb eigentlich umher, wie ein weicher Vorhang aus schwebenden, federleichten Tropfen. Es musste an die sieben, acht Grad über Null sein. Kein nennenswerter Wind und die Straßen verlassen, wie vor einem lange erwarteten Bombenangriff. Dunkel und in sich verschlossen — mitsamt dem geheimnislosen Schlaf der in der Nähe gelegenen Wohnungen.
    Erich ist tot, dachte er und ging los.
     
    Anderthalb Stunden später kehrte er zurück. Ulrike saß in der dämmrigen Küche, hielt eine Teetasse in den Händen und wartete auf ihn. Er ahnte ihre Aura aus vorwurfsvoller Unruhe und Mitleid, aber sie traf ihn nicht mehr als ein falsch verbundener Anruf oder eine formelle Beileidsbekundung.
    Hoffentlich hält sie das durch, dachte er. Hoffentlich reiße ich sie nicht mit mir.
    »Du bist nass«, sagte sie. »Bist du weit gegangen?«
    Er zuckte mit den Achseln und setzte sich ihr gegenüber.
    »Bis nach Löhr«, sagte er. »Es regnet nicht so schrecklich.«
    »Ich bin eingeschlafen. Es tut mir Leid.«
    »Ich musste einfach an die Luft.«
    Sie nickte. Eine halbe Minute verging, danach streckte sie ihre Hände quer über den Tisch. Ließ sie halb geöffnet einige Dezimeter vor ihm liegen, und nach einer Weile griff er danach. Umschloss sie mit seinen eigenen und drückte sie zweifelnd. Begriff, dass sie auf etwas wartete. Dass er etwas sagen musste.
    »Als ich ein Kind war, kannte ich ein altes Ehepaar«, fing er an. »Sie hießen Bloeme.«
    Sie nickte vage und machte ein fragendes Gesicht. Er ließ seinen Blick eine Weile auf ihrem Gesicht ruhen, dann fuhr er fort:

    »Vielleicht nicht so schrecklich alt, aber sie kamen mir vor wie die ältesten Menschen auf der Welt. Sie wohnten in unserer Gegend, einige Häuser weiter, und sie verließen fast nie das Haus. Nur sonntagnachmittags ließen sie sich ab und zu sehen, und dann ... dann verstummte alles Leben, und alle Spiele auf der Straße wurden eingestellt. Sie gingen immer Arm in Arm auf der schattigen Straßenseite, der Mann trug immer einen Hut, und immer strahlten sie tiefe Trauer aus. Eine Wolke aus Trauer. Meine Mutter hat mir ihre Geschichte erzählt, ich war höchstens sieben oder acht, glaube ich. Bloemes hatten einmal zwei Töchter, zwei schöne junge Mädchen, die in einem Sommer zusammen nach Paris gefahren sind. Dort wurden beide unter einer Brücke ermordet, und seither hatten ihre Eltern keinen Kontakt mehr zu anderen Menschen. Die beiden Töchter kamen in zwei französischen Särgen zurück. Ja, das war ihre Geschichte ... wir Kinder beobachteten sie immer mit dem größtmöglichen Respekt. Mit höllischer Hochachtung, ganz einfach.«
    Er verstummte und ließ Ulrikes Hände los.
    »Kinder sollten nicht vor ihren Eltern sterben.«
    Sie nickte.
    »Möchtest du eine Tasse Tee?«
    »Danke. Wenn du ein paar Tropfen Rum hineingibst.«
    Sie stand auf. Ging hinüber zur Anrichte und schaltete den elektrischen Wasserkocher ein. Suchte eine Weile zwischen den Flaschen im Schrank. Van Veeteren blieb am Tisch sitzen. Faltete die Hände und stützte das Kinn auf die Fingerknöchel. Kniff die Augen zu und spürte dabei wieder, wie sehr sie in ihren Höhlen wehtaten. Ein brennender Schmerz, der von dort bis in die Schläfen wanderte.
    »Ich habe das schon einmal erlebt.«
    Ulrike drehte sich um und sah ihn an.
    »Nein, ich meine nicht bei der Arbeit. Aber ich habe mir Erichs Tod schon so oft vorgestellt ... dass ich ihn begraben müsste, nicht umgekehrt. Nicht in letzter Zeit, es ist schon länger
her.

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