Der unglueckliche Moerder - Roman - Ausgezeichnet mit dem Skandinavischen Krimipreis
am Stecken, meinst du nicht?«
»Vermutlich ja«, sagte Moreno. »Auf jeden Fall glaube ich, dass wir es hier nicht einfach mit einem normalen Überfall zu tun haben. Es steckt mehr dahinter, aber vielleicht meine
ich das auch nur, weil gerade Erich das Opfer ist, was weiß ich ... und natürlich ist es eine reichlich schräge Argumentation.«
»In der Welt der Gedanken gibt es allerlei Schräges«, sagte Reinhart. »Intuition und Vorurteile riechen im Grunde ziemlich ähnlich. In diesem Fall finde ich, sollten wir hiermit anfangen.«
Er zog das abgegriffene Wachstuchheft hervor, das Marlene Frey ihnen überlassen hatte — gegen die Zusicherung, es gleich nach dem Kopieren zurückzubringen.
»Das muss der Beweis dafür sein, dass sie inzwischen auf dem Pfad der Tugend wandelten«, sagte Moreno. »Leute, die kein reines Gewissen haben, würden der Polizei doch niemals freiwillig ihr Adressbuch überlassen.«
Reinhart blätterte im Heft und machte ein besorgtes Gesicht.
»Verdammt viele Leute«, seufzte er. »Ich glaube, wir müssen noch einmal mit ihr reden und sie um ein paar Hintergrundinformationen bitten.«
»Das mache ich morgen«, versprach Moreno. »Und jetzt lass uns gehen. Ich glaube nicht, dass wir heute Abend noch ein goldenes Ei legen.«
Reinhart schaute auf die Uhr.
»Da hat die Inspektorin sicher Recht«, sagte er. »Eins steht jedenfalls fest.«
»Was denn?«, fragte Moreno.
»Wir müssen das hier lösen. Und wenn wir bis zur Jahrhundertwende keinen einzigen verdammten Fall mehr aufklären, bei diesem hier muss es uns gelingen. Das sind wir ihm schuldig. Das ist das Mindeste, was wir für ihn tun können.«
Moreno stützte den Kopf auf die Hände und dachte nach.
»Bei jedem anderen würde ich denken, dass aus dir reichlich überspannte Pfadfindermoral spricht«, sagte sie. »Aber ich muss zugeben, dass ich deiner Ansicht bin. Es ist schlimm, so wie es ist, und es wird noch schlimmer, wenn wir den Mörder ungeschoren davonkommen lassen. Meldest du dich morgen
wieder bei ihm? Er will vielleicht wissen, wie es weitergeht.«
»Ich habe versprochen, ihn auf dem Laufenden zu halten«, sagte Reinhart. »Und das werde ich auch tun. Ob ich nun will oder nicht.«
Moreno nickte düster. Dann tranken sie aus und überließen das Cafe, die Stadt und die Welt ihrem Schicksal.
Zumindest für einige Stunden.
9
Er erwachte und schaute auf die Uhr.
Viertel vor fünf. Er hatte zwanzig Minuten geschlafen.
Erich ist tot, dachte er. Es ist kein Traum. Er ist tot, das ist Wirklichkeit.
Er spürte, wie seine Augen in ihren Höhlen brannten. Als wollten sie sich aus seinem Kopf drängen. Ödipus, dachte er. Ödipus Rex ... für den Rest des Lebens blind umherirren und Gnade suchen, vielleicht wäre das etwas. Vielleicht ergäbe das einen Sinn. Erich. Erich ist tot. Mein Sohn.
Es war seltsam, wie der eine Gedanke Stunde um Stunde sein ganzes Bewusstsein ausfüllen konnte. Dieselben drei Wörter — im Grunde war es nicht einmal ein Gedanke, sondern nur diese Wortzusammenstellung, undurchdringlich wie ein Mantra in einer fremden Sprache: Erich ist tot, Erich ist tot. Minute um Minute, Sekunde um Sekunde, jeder Bruchteil jeden Augenblicks jeder Sekunde. Erich ist tot.
Oder vielleicht war es auch überhaupt nicht seltsam. Vermutlich musste es einfach so sein. Und würde in alle Zukunft so bleiben. Dies hier war der Grundstein für sein künftiges Leben. Erich war tot. Sein Sohn hatte ihn endlich in Besitz genommen; durch seinen Tod hatte er endlich die ganze Aufmerksamkeit und Liebe seines Vaters gewonnen. Erich. So war es. Ganz einfach.
Ich werde zerbrechen, dachte Van Veeteren. Ich werde in Stücke zerfallen und untergehen, und es ist mir egal. Wäre doch gut, noch rechtzeitig zu sterben.
Die Frau neben ihm bewegte sich und erwachte. Ulrike. Ulrike Fremdli. Die trotz aller Zweifel und Seelenkrämpfe seine Frau geworden war. Seiner Krämpfe, nicht ihrer.
»Hast du ein bisschen geschlafen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Gar nicht?«
»Eine halbe Stunde.«
Sie fuhr mit einer warmen Hand über seine Brust und seinen Bauch.
»Möchtest du eine Tasse Tee? Ich kann gern eine machen.«
»Nein, danke.«
»Möchtest du reden?«
»Nein.«
Sie drehte sich um. Rückte näher an ihn heran, und nach einer Weile hörte er ihrem Atem an, dass sie wieder eingeschlafen war. Er wartete noch einige weitere Minuten, dann stand er vorsichtig auf, steckte die Decke um sie fest und ging in die Küche.
Die roten
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