Der unglueckliche Moerder - Roman - Ausgezeichnet mit dem Skandinavischen Krimipreis
auch vom Autoinneren her möglich sein könnte.
Das war es nicht; nicht sofort, doch als er zurückgesetzt und auf der Straße gewendet hatte, konnte er problemlos vom Fahrersitz her alles im Auge behalten. Ihm fiel ein, dass er ein Fernglas besaß, und er ging ins Haus, um es zu holen.
Setzte sich wieder ins Auto, doch ehe er wirklich mit der Überwachung begann, stieg er noch einmal aus und ging zurück zum Kiosk. Kaufte zwei Bier, von denen er wusste, dass er sie niemals trinken würde. Blieb einen Moment vor dem Mietshaus stehen und prägte sich die Nummer des Rollers ein.
Dann setzte er sich mit dem Fernglas ins Auto. Eine Dreiviertelstunde saß er so da und versuchte Zweifel zu hegen. Die
Schlussfolgerungen, die ihm während weniger Sekunden gekommen waren und ihm seither als Axiom erschienen, zu durchlöchern.
Alles stimmte. An jenem Abend war ein Roller vorbeigekommen. Der unterwegs nach Boorkheim gewesen war. Er hatte sich ja schon überlegt, dass der Erpresser jemand sein musste, der wusste, wer er war ... die Antwort war ganz einfach — dass es sich nämlich um einen Nachbarn handelte. Nicht um jemanden, den er jeden Tag grüßte — was ohnehin nur bei den unmittelbaren Nachbarn der Fall war, bei Herrn Landtberg und bei Familie Kluume.
Aber um einen Bewohner dieses Mietshauses eben.
Das hatte nur drei Stockwerke. Enthielt vermutlich nicht mehr als zehn oder zwölf Wohnungen. Drei Eingänge. Und einen roten Roller vor dem seinem Haus am nächsten gelegenen.
Es war glasklar. Boorkheim war keine große Wohnsiedlung, und die Leute dort kannten einander. Zumindest vom Sehen. Er glaubte nicht, dass es hier noch weitere Roller gab. Dass er diesen hier noch nie gesehen — oder zumindest nicht bewusst registriert hatte — musste daran liegen, dass der Besitzer ihn normalerweise hinter dem Haus abstellte. Sein Widersacher hatte sich offenbar nicht klar gemacht, dass sein Fahrzeug ihn verraten könnte; es wirkte jedenfalls nicht plausibel, dass er gerade an diesem Tag so nachlässig gewesen war ... und es ihm sozusagen mitten vor die Nase gestellt hatte.
Gerade an diesem Tag.
Wo nur noch Stunden übrig waren.
Er schaute auf die Uhr. So ungefähr vier. Noch elf Stunden.
Merkte, dass er Gänsehaut auf den Armen hatte.
Merkte, dass eine Strategie Form annahm.
Eine Dreiviertelstunde. So lange saß er im Wagen und wartete und plante. Dann kam der Besitzer aus dem Haus. Der Besitzer des roten Motorrollers. Durch das Fernglas schien das Gesicht nur wenige Meter von seinem eigenen entfernt zu sein.
Ein düsteres und ziemlich alltägliches Gesicht. Ungefähr in seinem Alter. Er kannte diesen Mann.
Es war einer der Angestellten unten in der Prothesenwerkstatt des Krankenhauses. Er glaubte einmal mit ihm gesprochen zu haben, aber sie waren nicht näher miteinander bekannt.
An den Namen konnte er sich nicht erinnern. Aber das war ja auch egal. Seine Strategie hatte er im Rekordtempo entwickelt. Die Gänsehaut blieb.
Das Essen mit Marlene Frey verlief zunächst ausgesprochen angespannt. Van Veeteren registrierte ihre Unruhe schon, als er für sie die Tür öffnete, und seine hilflosen Versuche, ihr das Gefühl des Willkommenseins zu geben, machten die Sache kaum besser.
Ulrike hatte zwar ein wenig mehr Erfolg, aber erst als Marlene Frey über der Suppe plötzlich in Tränen ausbrach, brach das Eis dann wirklich.
»O verdammt«, schniefte sie. »Ich dachte, ich könnte das hier schaffen, aber es geht nicht. Verzeihung.«
Während sie im Badezimmer war, trank Van Veeteren zwei Glas Wein, und Ulrike musterte ihn mit besorgter Miene.
»Er fehlt mir so sehr«, sagte Marlene, als sie zurückkam. »Ich weiß ja, dass es euch auch so geht, aber das macht die Sache nicht besser. Er fehlt mir so sehr, dass ich verrückt werden könnte.«
Sie starrte Van Veeteren aus notdürftig ausgespülten Augen an. Weil ihm nichts Besseres einfiel, starrte er zurück, dann lief er um den Tisch herum und umarmte sie. Das war nicht ganz einfach, da sie ja saß, aber während er es tat, spürte er, wie sich etwas in ihm löste.
Eine Faust, die ihren Zugriff aufgab. Die sich öffnete. Seltsam, dachte er.
»Jesus«, sagte Ulrike. »Wie weit die Herzen der Menschen bisweilen voneinander entfernt sind!«
Marlene brach erneut in Tränen aus, aber diesmal konnte sie sich mit der Serviette die Nase putzen.
»Ich habe mich so einsam gefühlt«, erklärte sie. »Und vor euch hatte ich fast schon Angst.«
»Er ist nicht so
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