Der Ungnädige
Gayle ist nicht ganz einfach. « Marla Redmond überlegte kurz, verzichtete dann jedoch auf weitere Erklärungen. » Sie werden schon sehen, was ich meine. «
Die Eingangstür öffnete sich, und eine schmale, nicht mehr ganz junge Frau mit grauem Haar schaute heraus.
» Man hat uns entdeckt. «
Small blickte in die gleiche Richtung wie ich. » Ah, das ist Lydia, die Haushälterin. Keine Ahnung, wozu Gayle Personal braucht. Sie leidet ja nicht gerade unter Zeitmangel. «
» Statusfrage « , entgegnete DCI Redmond knapp. » Sie will alles so haben wie ihre Nachbarn auch. Wenn sie schon nicht richtig hierher passt, will sie wenigstens mithalten. Lydia arbeitet immerhin schon seit zehn Jahren für sie. Nach dem, was ich von ihr erfahren habe, hat wohl vor allem sie sich um das Mädchen gekümmert. Gayle ist nicht so der Typ, der auf Disziplin oder häusliche Pflichten achtet. « Sie öffnete ihre Autotür, stieg aus und winkte der Haushälterin kurz zu. » Wir schon wieder « , sagte sie überflüssigerweise.
» Irgendwelche Neuigkeiten? « Die Stimme der Haushälterin klang rau und heiser, als hätte sie längere Zeit nicht gesprochen.
Ohne zu antworten, eilte DCI Redmond über den sauber gepflasterten Weg auf sie zu. Ich ließ Small den Vortritt und ging dann mit Rob hinter den beiden her. Der Sergeant trug einen sportlichen Tweedmantel und eine schwarze Hose, was beides nach der Autofahrt nicht gerade besser aussah. Außerdem hatte er einen seltsam huschenden Gang und nahm einen leichten Bogen auf die Eingangstür zu. Offenbar wollte er im Vorbeigehen noch einen Blick auf den Mercedes werfen.
Als DCI Redmond unter der schützenden Veranda angelangt war, sagte sie leise, damit es im Haus niemand hörte: » Lydia, es gibt Neuigkeiten, aber leider keine guten. Wo ist Gayle gerade? «
» Im Wintergarten. « Die Haushälterin bekreuzigte sich und bewegte dabei still die Lippen. Ihr Gesicht war kreidebleich.
» Ist jemand bei ihr? Eine Freundin? «
» Ja, sie hat Besuch « , antwortete Lydia ausweichend. » Ein Freund von Mr. Skinner, glaube ich. «
Marla Redmond war professionell genug, um darauf keine eindeutige Reaktion zu zeigen, aber ich merkte ihr die Neugier an, als sie den Flur betrat. Rob und ich folgten ihr und Small nach drinnen. Der Eingangsbereich hatte einen quadratischen Grundriss und war mit cremeweißen Marmorfliesen ausgelegt. Die Türen waren aus hellem Eichenholz, ebenso wie die Treppe, die sich übertrieben schwungvoll ins Obergeschoss wand. An den ebenfalls cremeweißen Wänden hing kein einziges Bild, nur ein springender Hirsch aus Bronze prangte auf einem Tisch in der Mitte. » Wir finden selbst den Weg. Danke, Lydia. «
Die Haushälterin rührte sich nicht von der Stelle. » Was ist mit meinem Mädchen passiert? Ist sie tot? «
Marla sagte nichts, aber ihr Gesicht verriet wahrscheinlich die Antwort, denn Lydia wandte sich ab, und ihr entfuhr ein erstickter Schrei. Ich verstand ihr hilfloses Bedürfnis, vor der schlimmen Nachricht davonzulaufen.
» Lydia, das tut mir so leid « , sagte Marla und tätschelte ihr die Schulter. » Ich kann Ihnen jetzt noch keine Einzelheiten nennen, aber wir haben heute Morgen ihre Leiche gefunden. «
» Wo denn? «
» Ich muss erst mit Gayle reden. Es tut mir so leid « , sagte sie noch einmal.
» Ja, natürlich. Natürlich. « Lydia wandte sich uns wieder zu. Ihr Gesicht sah aus wie das einer Schlafwandlerin, die gerade am Rande eines Abgrunds aufgewacht ist. » Bis zum Ende des Korridors, durchs Wohnzimmer und dann links. «
» Wir finden uns schon zurecht. «
» Ich zeige es Ihnen. «
» Das ist wirklich nicht nötig. «
Small unterbrach sie. » Machen Sie am besten einen Tee für alle. Schön heiß und mit viel Zucker. Trinken Sie selbst auch eine Tasse und atmen Sie erst mal durch. Wenn man so durcheinander ist, geht nichts über ein Schlückchen Tee. «
» Mrs. Skinner trinkt aber keinen Tee « , entgegnete sie. Ihre Stimme war immer noch heiser, klang jetzt aber völlig teilnahmslos, und ihr Blick war leer. » Sie trinkt überhaupt nichts mit Koffein. «
» Egal. Vielleicht überlegt sie es sich ja anders, wenn sie es erfahren hat. Da ist es besser, wenn Sie etwas in petto haben. « Er schob sie mit sanftem Nachdruck ans andere Ende des Flurs, zu einem Raum, der vermutlich die Küche war.
» Danke, Ray. «
» Kein Problem. « Er nickte in Richtung einer Tür auf der gegenüberliegenden Seite. » Da rein? «
» Genau. «
Das Wohnzimmer
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