Der Ungnädige
unbedingt. «
» Ja, Mami. «
Das Telefon vor mir auf dem Schreibtisch summte los, und ich ging ran. » Kerrigan. «
» Tony Stone. Sie wollten mich sprechen? « Er klang freundlich, unglaublich ruhig und keineswegs überrascht, dass man ihn an einem Sonntag aufgestöbert hatte. Das gehörte eben zum Job, vor allem, wenn man schon etliche Dienstjahre hinter sich hatte. Kriminelle wurden erneut straffällig. Fälle wurden wieder aufgerollt. Nichts davon ließ man wirklich hinter sich, jedenfalls nicht die großen Fälle. Und die ganz schlimmen, so wurde mir in dem Moment klar, folgten einem wie ein Kometenschweif– unerledigte Angelegenheiten, die einem nicht aus dem Kopf gingen.
» Es tut mir sehr leid, dass ich Sie stören muss, aber ich habe hier einen Fall, bei dem einer der Hauptverdächtigen schon einmal als Jugendlicher verhaftet wurde, und zwar von Ihnen. Seine Akte trägt den Vermerk, dass Sie kontaktiert werden möchten, wenn wir erneut auf ihn aufmerksam werden. «
» Aha? « Seine ruhige Art war gespanntem Interesse gewichen. » Und wer wäre das? «
» Lee Bancroft. Eigentlich Alexander Bancroft…ich weiß nicht, ob er sich Lee genannt hat, als Sie mit ihm zu tun hatten. Das war damals oben in… «
» Enfield. Ja, ich erinnere mich. Das muss 1996 gewesen sein. Nein– 1997. «
» Stimmt. Laut Akte hat er eine zwölfjährige Schülerin vergewaltigt. «
» Warten Sie mal bitte kurz. « Ich hörte Schritte, und dann wurde eine Tür geschlossen. » Okay. Ich wollte nicht in Hörweite meiner Kinder darüber reden. Alexander Bancroft also. « Er seufzte. » Hab ich’s doch gewusst, dass er eines Tages wieder auftaucht. Worum geht’s denn diesmal? «
Ich berichtete ihm von unserem Verdacht hinsichtlich Cheyenne und Patricia und von der Hoffnung, dass Patricia noch am Leben war.
» Was Sie mir da erzählen, überrascht mich kein bisschen. Eigentlich nur die Tatsache, dass es doch so lange gedauert hat, bis er wieder auftaucht. «
» Was ist damals in Enfield passiert? Was war da los? «
» Alex– damals hieß er noch Alex– war in der Schule ein schlimmer Unruhestifter. Andy eher das Gegenteil: Als hätte er kein Wässerchen trüben können, aber in Wahrheit führte er immer was im Schilde. Er wurde nur nie erwischt. Alex war ein Störenfried, stellte jede Art von Autorität in Frage, hatte ständig Stress am Hals. Und die Direktorin war einer von diesen Gutmenschen, die ihm unbedingt helfen wollten, insbesondere wegen seiner häuslichen Verhältnisse. «
» Was für häusliche Verhältnisse? «
» Die Eltern waren tot– sie starben, als die beiden Jungs elf und dreizehn waren. Bis dahin hatten sie zu Hause schon einiges an Gewalt und Drogenmissbrauch erlebt. Die Eltern hatten sich wahrscheinlich öfter getrennt und wieder zusammengetan, als für die Kinder warme Mahlzeiten auf dem Tisch standen. Eines Tages aber war es der Mutter genug. Sie erklärte, dass sie diesen Mann nicht mehr sehen wollte, und reichte die Scheidung ein. Da hat der Vater sie erwürgt und sich anschließend selbst erhängt. Die Jungs haben beide Leichen gefunden. «
» Großer Gott. Wenn man nicht bis dahin schon aus der Spur ist– danach ganz bestimmt. «
» So ist es. Reichlich Vorgeschichte jedenfalls, die erklärt, warum Alex so geworden ist, wie er ist. Damit will ich nicht sagen, dass er für seine Taten keine Verantwortung trägt. Viele Kinder erleben eine traumatische Kindheit und werden doch nicht zu brutalen Vergewaltigern, aber bei ihm wurde sie strafmildernd berücksichtigt, als er vor Gericht stand. « Er zögerte. » Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei der Direktorin. Vita Mountford. Alex war so eine Art fixe Idee von ihr. Sie glaubte, ihm nur etwas Stabilität geben zu müssen, ein bisschen Disziplin, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. Sie verdonnerte ihn dazu, an drei Nachmittagen in der Woche länger in der Schule zu bleiben, damit er in ihrem Büro seine Hausaufgaben und ein paar schulische Pflichten erledigen konnte, anstatt einfach nur nachzusitzen. Sie wollte ihn von seinem Bruder fernhalten, weil er die Angewohnheit hatte, Andy das Reden zu überlassen. Sie wollte, dass er lernte, für sich selbst zu denken. Was ein gewaltiger Fehler war, das kann ich Ihnen sagen. «
» Und wer war das Mädchen? «
» Carly Mountford. Tochter der Direktorin. Wenig Selbstvertrauen, nicht gerade besonders pfiffig. So ein kleines Ding. Hat bei ihrer Zeugenaussage kaum einen Ton rausbekommen. Er hat sie
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