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Der Ungnädige

Der Ungnädige

Titel: Der Ungnädige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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Es war eine lange, dünne Gestalt, die unverkennbar menschlich aussah, selbst als ich die wächserne, gelbe Hand noch nicht wahrgenommen hatte, die unter der Decke hervor um Gnade flehte– vergebens. Ich ging näher, hielt den Atem an und beleuchtete mit der Taschenlampe den Kopf des Leichnams. Michael Bancroft, wie ich annahm, und es bestand kein Zweifel, dass er tot war. Und das nicht erst seit Kurzem.
    » Kein Verwesungsgeruch. «
    » Hier drin ist es trocken und ziemlich kalt. « Ich ging noch etwas näher heran. » Ich will Glen Hanshaw ja nicht ins Handwerk pfuschen, aber er sieht aus wie mumifiziert. «
    » Hier im Haus sind nicht besonders viele Insekten unterwegs. Vor allem, wenn es im Winter passiert ist. «
    » Richtig. Und ich wäre mir noch nicht mal sicher, dass das in diesem Winter war. « Vorsichtig ging ich zurück, wobei ich sehr darauf achtete, wohin ich meine Füße setzte. » Wir sollten sofort anrufen und die Sache durchgeben. Godley wird auf alle Fälle überprüfen wollen, dass es kein Mord war. «
    Liv hielt ihr Telefon in der Hand und fragte mit beunruhigter Miene: » Wenn nicht er den Kaffee getrunken und ferngesehen hat, wer war es dann? «
    » Gute Frage. « Ich ließ sie im Flur stehen und die 999 wählen und machte unterdessen mit dem nächsten Zimmer weiter, das ebenfalls ein Schlafzimmer war, so unberührt und abweisend wie das erste, das wir gefunden hatten. Eins für Lee, eins für Drew– und Onkel Michael tot dazwischen. O glückliches Familienleben. Vielleicht waren die Brüder gern hier gewesen. Vielleicht war es ihnen ein zweites Zuhause.
    Ich war schon an der Treppe angekommen, als ich das Gefühl hatte, etwas übersehen zu haben. Zimmer für Zimmer ging ich durch, was ich inspiziert hatte: Küche, Schlafzimmer– das kleine Wohnzimmer. Was war damit? Die Schlüssel. Jeder hatte alte Schlüssel irgendwo in seiner Wohnung. Die Brille. Mit den Gläsern nach unten. So legt man seine Brille nicht ab, weil sonst die Gläser zerkratzen. Wie in die Ecke geworfen hatte es für mich ausgesehen. Schwarze Bügel, halb eingeklappt. Verstaubt. Lagen sicher schon ewig dort. Vergessen.
    Liv gab dem Dispatcher die Wegbeschreibung zum Haus durch. Ich wartete, bis sie fertig war. » Hast du bei deiner Tour ums Haus irgendwelche Nebengebäude gesehen? Schuppen? «
    » Nein. Hinter dem Haus ist nur Wiese. Links eine Garage, aber die war völlig leer. «
    Ich schaute mich noch einmal um und betrachtete die nichtssagenden, kahlen Türen, ein billiges Landschaftsgemälde an einer Wand, eine hässliche, schillernde, an eine deformierte Christbaumkugel erinnernde Deckenlampe in der Mitte des Korridors. Mein Blick folgte der Aufhängung nach oben, zu der kaputten Stuckrosette und zu der quadratischen Luke daneben, die zu einem Dachboden führen musste.
    » Hast du zufällig einen stabilen Stuhl im Haus gesehen? «
    Liv ging in das dritte Schlafzimmer und kam mit einem einfachen Holzstuhl wieder. » Geht der? «
    » Perfekt. « Ich schob ihn unter die Luke und stellte mich darauf. Wenn ich mich so weit wie möglich streckte, konnte ich die Klappe gerade eben mit den Fingerspitzen berühren. Nicht zum ersten Mal war ich froh, so groß zu sein. Ich probierte alle vier Seiten, in der Hoffnung, dass ich es mit einem Druckmechanismus zu tun hatte, aber nichts tat sich.
    » Versuch’s in der Mitte, vielleicht hebt sie sich ja einfach. «
    Ich tat, wie Liv vorgeschlagen hatte, drückte kräftig dagegen und fiel beinahe vom Stuhl, als die Klappe plötzlich nachgab. Der Kloakengeruch wurde sofort intensiver, und ich musste husten, schaffte es aber, die Klappe vollständig zur Seite zu schieben und nach der Leiter zu greifen, die über den Rand ragte. Ich zog sie herunter und stellte meinen Fuß darauf.
    » Kannst du sie bitte festhalten? «
    Liv packte den unteren Teil fest an. » Sei vorsichtig. «
    Ich schaute nach oben, in das graue Tageslicht hinein, das den Raum über mir erfüllte. Offenbar gab es dort Oberlichter oder Dachfenster. Die Balken sahen aus, als gäbe die Dachkonstruktion einen vollständigen Bodenraum her, nicht nur einen niedrigen Speicher. Es behagte mir nicht, die Leiter hinaufzusteigen, denn das bedeutete, dass ich für einige Sekunden meinen Kopf ungeschützt durch die Dachluke stecken musste. Ich wurde ganz starr, wenn ich daran dachte, wie angreifbar ich in dem Moment sein würde– aber wenigstens herrschte dort oben keine Finsternis. Ich schob die Taschenlampe in die Hosentasche und

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