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Der Ungnädige

Der Ungnädige

Titel: Der Ungnädige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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stieg rasch die restlichen Sprossen nach oben, um mir keine Zeit zum Nachdenken zu lassen. Kaum war ich durch die Luke hindurch, vergewisserte ich mich mit einem schnellen Rundumblick, wo ich war. Ich sah stapelweise Trödel, Kartons, alte Taschen, den ganzen Krempel, der im Leben eben so anfällt. Das Licht fiel durch Fenster auf allen vier Seiten herein. Eigentlich ein ansprechender Raum, dachte ich, und eine verschwommene Erinnerung an Brodys Wohnung schob sich über die Realität, die vor meinen Augen lag. Ich richtete mich auf, wobei ich aufpasste, dass ich mir nicht den Kopf stieß.
    » Alles in Ordnung « , rief ich Liv zu, die hinter mir die Leiter heraufkam. » Hier oben ist nichts. Hier… «
    Die Worte erstarben auf meinen Lippen. Im Stehen konnte ich über ein paar verstaubte Bücherregale und übereinandergestapelte Tische hinwegsehen und den Raum überblicken. In der hinteren Ecke, unter dem Fenster, das auf der Rückseite des Hauses lag, befand sich ein Heizkörper. Neben dem Heizkörper lag eine Matratze. Und auf der Matratze war eine Gestalt, diesmal mit langen schwarzen Haaren, ein Körper, bekleidet mit einem grauen Sweatshirt und schwarzer Trainingshose, ein Körper mit bloßen, schmutzigen Füßen. Sie lag zusammengekauert da, zusammengerollt wie zu einer Kugel, über der Schulter eine alte Decke. Ich sah die leere Wasserflasche, die leer gegessenen Plastikdosen, und ich bemerkte den roten Plastikeimer, der die Quelle des Gestanks war. Ich hörte, wie Liv hinter mir aufschrie, reagierte aber nicht. Ich konnte nicht. Sie war dünn, furchtbar dünn, und ich wusste, dass es Patricia war, obwohl ich ihr Gesicht noch nicht gesehen hatte und sie körperlich bis zur Unkenntlichkeit verändert war.
    Und ich wusste, dass ich nun den Telefonanruf zu erledigen hatte, vor dem ich mich so gefürchtet hatte. Sie bewegte sich nicht. Sie war ganz schlaff. Leblos.
    Wir waren wieder einmal zu spät.

20
    Nach einem Moment der Erstarrung kam mein Hirn schnell wieder in Gang. Im Angesicht des Todes war es immer mein professionelles Pflichtgefühl, das mir über meine Berührungsängste hinweghalf. Ich stieg also zwischen den aufgetürmten Möbelstücken hindurch und näherte mich dem zusammengerollten Körper, um mir ein genaues Bild von Patricia zu machen, ehe Liv die Leitstelle noch einmal anrief. Wir würden einen weiteren Krankenwagen brauchen, aber ansonsten hatten wir die Lage im Griff. Die Kollegen von der Spurensicherung, die gerade unterwegs zu Michael Bancroft waren, konnten auch zwei Tatorte bewältigen, und Glen Hanshaw war sicher in der Lage, zwei Leichen in Augenschein zu nehmen.
    » Du musst Godley anrufen « , sagte ich über die Schulter. » Das hier wird er wissen wollen. «
    » Ist sie… «
    » Tot? Ich fürchte schon. « Die Wasserflasche war bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken. Ich fragte mich, wie lange sie wohl schon leer war, wie lange Patricia durchgehalten hatte. Drei Minuten ohne Sauerstoff, drei Tage ohne Wasser, drei Wochen ohne Essen. Diese Faustregel hatte ich irgendwann mal gelernt, obwohl Glen Hanshaw dafür nur Hohn und Spott übrighatte, als ich sie in seiner Gegenwart erwähnte. Er erläuterte, dass Faktoren wie Umweltbedingungen oder der allgemeine Gesundheitszustand des Betroffenen ebenfalls eine große Rolle spielten. Und Patricias Zustand war angesichts der Umstände bestimmt nicht besonders gut gewesen.
    Ich streckte meine Hand nach ihrem Hals aus, um einen etwaigen Puls zu ertasten. Dazu strich ich ihre Haare ein wenig beiseite. Alles erinnerte mich nur allzu sehr an das kürzlich aufgetauchte Video, daran, wie Lee mit Cheyenne umgesprungen war, und ich musste mich sehr konzentrieren, damit meine Finger nicht zitterten. Emotionen konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Der Zorn musste warten.
    Ich schob meine Hand zu der kleinen Vertiefung neben ihrer Luftröhre, doch als meine Fingerspitzen ihre Haut streiften, bewegte sie sich plötzlich ohne jede Vorwarnung. Sie öffnete die Augen und setzte sich im selben Augenblick kerzengerade auf. Vor Schreck verlor ich das Gleichgewicht und fiel ziemlich unelegant nach hinten. Liv stieß ein Geräusch aus, das an einen Schrei grenzte, und mein Denkvermögen reichte gerade noch zu der erleichterten Beobachtung, dass mein Entsetzen mir zu sehr den Atem genommen hatte, als dass ich überhaupt einen Ton hätte von mir geben können.
    Patricia sah mich benommen an wie unter Drogen. Ich erkannte sie auf den ersten Blick, obwohl

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